Metagonist

Wenn du über Nieselregen schreiben willst, schreibe über Nieselregen. Wenn du einen Albtraum hattest, der erwähnenswert scheint, erwähne ihn. Vergiss nicht, das Brot zu backen, für das du am gestrigen Abend einen Vorteig angesetzt hast, sonst ist Schmalhans Küchenmeister, wenn du in ein zwei Stunden hungrig vom PC aufstehst und so etwas Ähnliches wie Frühstück oder Mittagessen oder Frittagessen oder Mittstück zu dir nehmen willst.

Der gestrige Tag war sonnig, mild, lähmend, schleppte sich dahin. Am morgen hatte ich die Absicht am Blog-Experiment – den hier vorliegenden Blogeinträgen – zu arbeiten. Sah mich im Geiste zurückversetzt in den vergangenen Frühling in die Hochzeit der virtuellen Fahrradtour am Atlantik. Ich würde den Klapprechner aufschlagen und mich in die Landkarte vertiefen und nach Bildern suchen. In Berlin in der Sophienstraße würde ich beginnen. Ich würde nach Auffälligkeiten in der Landkarte suchen, nach besonderen Straßennamen zum Beispiel, würde mir eine Tagesetappe von etwa 70 Kilometern aushecken und den Weg in der Landkarte am Bildschirm mit einem speziellen Tool zeichnen. Dann kämen mir sicher Ideen für den Reisebericht, Ideen, worüber ich schreiben könnte. Ich würde das Internet durchforsten und in Googles Streetview mir die Gegend anschauen.

Die Themen des gestrigen Tages im Netz waren unter anderem Nachklänge des vorgestrigen Tags, an dem man an die Pogromnacht 1938 erinnerte. Vom ‚Schicksalstag der Deutschen‘ wurde in den sozialen und anderen Medien geredet, denn es gibt ja noch mehrere Begebnisse an längst vergangenen neunten Novembern, die für die Menschen in Deutschland Bedeutung haben. Begebnisse, mit denen manche liebend gerne die Pogromnacht überschreiben würden, um sie für immer zu vergessen. Die Hashtags #keinVergessen, #niewieder, #keinVerblassen hielten sich wacker und bestimmten das Themengezwitscher an diesem zehnten November im Nachklang auf den neunten November tapfer mit. So hatte ich den Eindruck. Der womöglich trügt, denn ich befinde mich wie jeder Mensch in einer Blase, in der ich Gleichgesinntes erlebe, das ich zu mir in meine Gedanken lasse, um mich daran zu nähren oder mich am Gegenpol, der unweigerlich mitläuft, überdosiert zu vergiften.

Ein, naja, sagen wir einmal …

Ein Anruf kickt mich raus aus der Schreibe. Ich muss aufpassen. Pass auf Junge! Lass dich nicht ablenken. Folge dem Weg. Auch wenn er nur virtuell ist und du ihn gar nicht gehst!

Nüchtern betrachtet ist die gesamte Welt vorwiegend im Kopf. Ein Bild oder ein Konglomerat von Bildern oder ein Bildergemenge manifestiert sich in jedem Kopf dieser Erde, der auch nur annähernd denkensfähig ist. Umrankt werden diese Weltenbilder von ein bisschen Echt, ein bisschen physischem Input, auf den man reagieren kann. Mit Liebe, mit Aggression, mit Wohlwollen oder Abneigung.

Ich beobachte ein Huhn. Hatte ich erwähnt, dass ich ein paar Hühner halte, die mir und meinen Lieben täglich frische Eier legen? Die Tiere befinden sich im ziemlich großen Gehege einer Obstanlage. Unter vielen, nicht sehr gepflegten alten Apfel-, Birnen und Quittenbäumen scharren sie tagein tagaus nach Kerbentieren und Würmern. Manchmal schlüpfen sie durch Löcher im Zaun und erkunden die weitere Umgebung, baden im Sand unter dem Vordach des einsamen Gehöfts, auf dem ich lebe. Sie scharren sich Staub ins Gefieder, schütteln ihn wieder aus. Und wenn sie fertig sind mit Sandbaden und Welterkunden, laufen sie auf die Tür im Gehege zu und lungern so lange davor herum, bis jemand kommt, der ihnen die Tür aufmacht. Das heißt, dass selbst diese Tiere mit dem winzigen Kopf und dem winzigen Gehirn eine Welt in ihrem Kopf haben, ein Bild von einer Welt. Sie sind in der Lage, auf zwei Beinen zu gehen und Richtungen zu wählen wie auch wir Menschen. Sie erkennen Gefahren, kennen Verstecke, wissen wo die Löcher im Zaun sind und dass es eine magische, riesige Tür gibt, durch die man komfortabel ins Gehege zurückkehren kann, wenn sie nur laut genug gackern.

Mit den Augen einer höheren, nicht weiter definierbaren Beobachterin gesehen, im Fokus alle Lebewesen auf diesem Planeten, unterscheiden wir Menschen uns in Intelligenz und Sicht des Großen und Ganzen, was wahrnehmbar ist womöglich gar nicht so arg von Hühnern, Katzen, Regenwürmern oder Bäumen. Spekuliere ich einmal. Es gehört natürlich eine gewisse, an Blasphemie grenzende Kühnheit dazu, diese Spekulation in den Raum zu werfen, denn wir Menschen lassen in Punkto Krone-der-Schöpfung-sein nicht an unserem Bild von uns selbst rütteln. Alles ist uns Untertan, denken wir.

Den Sozialen Medien und den Speicherkapazitäten auf Internetservern ist es geschuldet, dass wir Menschen in Interaktion mit diesen Speichermedien unsere Weltbilder auslagern können. Gemeinsam in Konsens oder Dissens liegt draußen im Internet eine gemeinschaftliche Auslagerung von Weltsicht, an der wir alle mitarbeiten können, um die wir diskutieren und zanken können. Wir neigen dazu, alles, was im Internet an Bildern der Welt gezeigt wird als allgemeingültig und wahr anzunehmen, wobei wir nach gutdünken unser eigenes Weltbild erzeugen können. Ich fürchte, da liegen Millionen Irrtümer vor. Die Nassforschheit, mit der wir dennoch versuchen, aus etwas, was vieldeutbar ist, ein einziges, großes, Ganzes herauszumeinen ist grotesk.

Den lieben langen Tag ratterte mein Gehirn und ich dachte über dieses Buch nach. Das war frustrierend. Ich kam ein bisschen in Paranoia, dass ich mich mit dem Thema übernommen hätte, dass ich überhaupt nicht in der Position und in der Lage bin, ‚zu liefern‘, wie man so schön sagt. Denn ich bin kein Historiker, verfüge über wenig Hintergrundwissen zum Leitthema dieses Buches. Es ist lange her, dass ich die Bücher von Cioma Schönhaus gelesen hatte. Der Geschichtsunterricht, in dem der Holocaust zum Thema war, ist noch länger her. Nie hatte ich eine KZ-Gedenkstätte besucht. Dieses Jahr hatte ich eigentlich vor, Flossenbürg zu besuchen. Die Gedenkstätte liegt am Rande Bayerns zur tschechischen Grenze. Sie liegt im Prinzip direkt auf dem Weg meines Kunstprojekts #UmsLand/Bayern, an dem ich seit 2018 arbeite.

Irgendwann wurde ich ruhiger im Laufe des gestrigen Tages. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass dies ein literarisches Experiment ist. Wie alle meine Blogbücher. Der Weg wird es schon richten. Das ist so bei Reisen. Auf die Misere und die Tristesse folgt immer die Fülle, kitzelt der Reiz des Neuen, ergeben sich unvermutet neue Türen (fast wie in einem Hühnerpferch mit löchrigem Zaun). Man muss nur lange genug dem Weg folgen und schon hat man ein neues Schlupfloch gefunden.

Was gelungen ist an diesem Projekt? Bisher? Ich habe am neunten November begonnen. Die Einzelteile der Geschichte liegen vor, obschon ich noch nicht ahne, dass sie da sind. Die eigene Person, ich, der Autor, mag vielleicht kaum eine Schnittmenge mit dem Passfälscher haben, aber er ahnt um die Wichtigkeit, den Weg zu gehen. Den Passfälscher zu verlieren, ihn wiederzufinden, wieder und immer wieder.

Protagonist, Antagonist, Metagonist. Gibt es solch ein Dreigestirn? Und wer ist wer?

Wenn ich mich gestern zum Schreiben durchgerungen hätte, hätte ich über Stolpersteine geschrieben. Ganz klar. Die Zeit wird kommen, an dem ich über Stolpersteine schreibe.

Vorhin erkannte ich zwei Richtungen: die eine führt zu diesem PC, an dem die Geschichte entsteht. Die andere führt ins Hochbett der Künstlerbude in eine Art Depression. Apathisch liegend nichts denkend, die Decke anstarrend. Darin bin ich recht gut und es fühlt sich auch nicht so übel, traurig, beängstigend an … ich muss mich wohl täglich für eine dieser beiden Richtungen entscheiden.

 

 

Ereignishüpfen auf Basis fremder Quellen

Vor ein paar Tagen bin ich unterwegs in die Schweiz. Über zwei Grenzen hinweg. Mit dem Auto. Auf gut ausgebauten Straßen. Mit hundert Sachen sausend im alltäglichen Verkehrsstrom ohne besondere Vorkommnisse wie Staus, Unfälle oder gar Grenzkontrollen. Von der Pfalz in den Aargau ist es der kürzeste Weg, etwa 70 Kilometer Landstraße durch Lothringen ins Elsass, bei Haguenau auf die Autobahn einzuspuren. Vorbei an einer Großbaustelle, vermutlich einer großräumig geplanten Umgehung Straßburgs, bewegt man sich durchgängig auf Autobahnen und vierspurigen Landstraßen entlang der Vogesen, immerzu südwärts, bis man in Basel die Grenze zwischen Frankreich und Schweiz passiert.

Ein Tag bevor ich den Weg antrat, den ich seit Jahren etwa einmal im Monat ohne Vorkommnisse bewältige, kam die Bewilligung für ein Projektsipendium, was mich ebenso erfreute, wie es mich auch ins Schwitzen brachte. Ich hatte bei der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur ein literarisches Projekt eingereicht, ungewiss, ob man es für gut befindet oder nicht. Insgeheim hatte ich ein bisschen gehadert, dass es vielleicht besser wäre, wenn es abgelehnt wird, denn das würde mir viel Arbeit und wohl auch einige technische Scherereien ersparen.

Aber Stiftung sagt ‚ja‘.

Eine materielle Erschütterung im Alltag. Und auch eine gewisse Verpflichtung. Im Projektentwurf legte ich mich auf den 9. November als Projektstart fest und darauf, dass ich „auf den Spuren des Passfälschers“ von Berlin in die Schweiz reisen würde. Der grassierenden Pandemie geschuldet rein virtuell mit den Mitteln meiner Zeit: Internet, Suchmaschine, PC, Maus und Tastatur; das Ganze garniert mit ein bisschen Serendipität, glücklichen Zufällen, die unbeabsichtigt den Verlauf des geplanten Blogbuchs günstig beeinflussen.

Das Projekt Passfälscher 2.0 ist eine Idee, die ich schon 2013 hatte, im Mai, als ich beim Sightseeing plötzlich vor den Stolpersteinen von Cioma Schönhaus‘ Eltern, Fanja und Boris Schönhaus, in der Sophienstraße in Berlin stand. Wer waren diese Menschen, warum mussten sie sterben? Wie hatte es der Sohn geschafft, den Schrecken der Nazizeit zu überleben?

Man müsste von diesen Stolpersteinen ausgehend seiner Fluchtspur bis in die Schweiz folgen und über die Reise schreiben. Die eigene Reise per Fahrrad, so wie ich es als Künstler und Autor seit 2010 praktizierte, umrankt von Ciomas Flucht, die er im Buch ‚Der Passfälscher‘ beschrieben hatte. Was wir gemeinsam hätten, Cioma und ich? Eigentlich nur, dass wir per Fahrrad und zu Fuß die Strecke überwanden und überwinden. Neugier, Lebenslust, schlichtes Menschsein in der eigenen Zeit, ja auch das hätten wir gemeinsam.

Das Projekt landete in der Schublade. Das Eisen war mir auch ein bisschen zu heiß. Viel lieber pflegte ich literarischen Freestyle in Blogform, ging meine eigenen Wege, ließ mich durch ein Gemenge aus Welt und Themen, aus Gegend und Ereignissen treiben und protokollierte das Ganze in Form diverser Blogs. Kreuz und quer durch Europa radelnd und spazierend, ohne jemals behelligt oder kontrolliert zu werden, ohne bedroht zu sein, erlebte ich einige Jahre eitel Dahinreisen und über dies und das schreiben, fotografieren und viel viel Leben voller schöner Momente.

Dann kam die Pandemie. Von heute auf morgen waren die europäischen Grenzen dicht. In einem ersten, sogenannten Lockdown versuchte man, die Begegnungen zwischen den Menschen so weit wie möglich zu reduzieren, um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen.

Sowie intensive Folgen für die meisten Menschen. Neben Ungewissheit Existenzbedrohung, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Frustration, Angst. Alle sogenannten nicht systemrelevanten Branchen mussten zurückstecken. Nicht zuletzt Kunst und Kultur.

Just an dem Tag, an dem ich ein für mich sehr wichtiges Kunst- und Reiseprojekt starten wollte, per Fahrrad durch Frankreich bis nach Andorra, war die Grenze dicht. Außerdem durfte ich vierzig Tage lang nicht in die Schweiz einreisen, nicht zu meinem zweiten Lebensmittelpunkt bei der Liebsten reisen, sie nicht sehen. Wir waren plötzlich nur noch virtuell verbunden.

Die Einnahmen, die mir das Projekt Zweibrücken-Andorra gebracht hätten, musste ich abschreiben. Ich war arbeitslos, erwerbslos, geldlos, lernte, von 200 Euro pro Monat zu leben.

In dieser Zeit liegt der Grundstein für das folgende Projekt. Statt auf dem Fahrrad entlang der Kanäle und auf alten Eselspfaden durch Frankreich zu radeln, vollführte ich die Reise virtuell, nahm meine Reisetagebücher der Jahre 2000 und 2010 zur Hand, die exakt dieselbe Strecke dokumentierten, die ich auch 2020 bereisen wollte und schrieb mein erstes fiktives Reisebuch. Ein erstaunliches Experiment. Deutlich spürbar, wie man sich in Windeseile wandeln kann und sich mit Umständen abfinden kann. Mehr noch, in Andorra angelangt, wo um diese Zeit in real etwa 20 Covid-19-Fälle festgestellt waren, setzte ich die Reise fort. Google Maps, Streetview und Wikipedia waren meine besten Freunde, auch wenn man den Informationen nicht immer trauen kann. So mutierte mein Projekt, bei dem ich mich anfänglich noch auf eigene Notizen verlassen konnte immer mehr zu einem Ereignishüpfen auf Basis fremder, teils fragwürdiger Quellen. Via Belchite, Zaragossa und Pamplona ging die Reise ins Baskenland und ab dort nahm der unmittelbare Vorläufer (Blogtitel Radlantix) dieses Projekts ‚Passfälscher 2.0‘ seinen Lauf. Denn auch die Velodyssée hatte ich auf der Liste meiner Zu-tuns. Radfahren auf dem französischen Atlantikradweg. Wenn ich schon virtuell ins Baskenland geradelt war, warum sollte ich nicht einfach weitrradeln auf dem Atlantikradweg? Täglich vier bis sechs Stunden Recherche, Blogschreiben und Kartenträumen? Das Blog Radlantix existierte schon seit Jahren. Nun ergänzte ich es mit fiktiven Beiträgen. Es fühlte sich erstaunlich echt an. Für Außenstehende nicht erkennbar, dass alles nur webrecherchiert und garniert mit jahrelanger Reiseerfahrung war.

Im Sommer: Pandemiepause. Ein kurzer, zaghafter Ritt #UmsLand. In echt, wie man so schön sagt. Dafür reichte der Mut. An der kurzen Leine in unmittelbarer Näher zur Heimat umradelte ich Rheinland-Pfalz – auch ein Projekt, das durch die Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur gefördert wurde.

Ein geradezu dystopischer Tag, der letzte Donnerstag. Für Anfang November viel zu warm. Seicht suppte Sonne durch sich lösenden Hochnebel. Links der Schwarzwald, rechts die Vogesen. Graue, im Dunst versinkende Gebilde. Wenig Verkehr. Sehr sehr wenig Verkehr. Ich weiß nicht, ob ich legal oder illegal unterwegs bin. Das Wirrwarr an Stimmen und Empfehlungen und Regelungen in Zeiten der Pandemie ist schier undurchdinglich. Vorsorglich habe ich eine Déclaration auf einen Zettel gekritzelt, in der ich erkläre, dass ich das Land ohne Unterbrechung durchquere auf dem Weg zur Liebsten. Zudem gaukelt der Passfälscher in meinem Kopf. Man hat ja beim Autofahren viel Zeit zum Grübeln. Nassforsch hatte ich den Start des Projekts für den 9. November angekündigt. Es schien mir symbolträchtig, an diesem Tag zu beginnen. Weder die Blogsoftware, noch die Datenbank waren auf dem Server installiert und es gäbe technisch noch so viel zu erledigen und zudem hatte ich meine Begleitliteratur, die Bücher von Samson ‚Cioma‘ Schönhaus daheim liegen gelassen. Nackt und ohne Hilfsmittel auf dem Weg in die Ferne, fast schon eine Art Fluchtsimulation, ein Halsüberkopfaufbruch ins Ungewisse – ich weiß, das ist Jammern auf hohem Niveau und es wird dem Ernst des Themas nicht gerecht. Dennoch. Mit Zweifeln beginnt es. Von  Zweifeln begleitet nimmt es seinen Lauf. Mit Zweifeln endet es. Am Ende wird es gelebt worden sein.

Frankreich befindet sich neben der pandemischen Entwicklung mit Terroranschlägen konfrontiert. In Basel an der Grenze kann ich ungehindert ausreisen. Ein ungewöhnlich freundlicher Schweizer Grenzkontrolleur fragt, ob ich Waren einführe, ich sage nein, er sagt Tipptopp und winkt mich durch. Gegenüber hat sich ein Stau von etwa zwei dreihundert Metern Länge gebildet, was darauf schließen lässt, dass die Franzosen kontrollieren. Seit vier Tagen befinde ich mich in der Schweiz.

Link zu einer Erinnerung im Blog Sofasophias.