Digitale Bildhauerei

Seit Beginn der Arbeiten an diesem Blog am 9. November 2020 begleiten mich die Stolpersteine. Zum einen sicherlich, weil jährlich um den 9. November, dem Höhepunkt der Novemberpogrome 1938, der Nazigräuel und der Judenverfolgung gedacht wird. Zum anderen schärfte sich nach und nach mein Blick. Es verhält sich mit Themen eigentlich nicht anders, als mit der Fotografie. Wir durchlaufen eine Blickschule in der Fotografie ebenso wie eine Aufmerksamkeitsschule für Themen. Hast du als Fotograf erst einmal ein Sujet realisiert, siehst du es schließlich an jeder Ecke. Hast du dich als interessierter Mensch erst einmal auf ein Thema eingelassen, wird es sich aus der Vielzahl an Themen hervorheben und du nimmst  irgendwann jeden auch noch so winzigen Aspekt dieses Themas intensiv auf. Hättest du dich nicht sensibilisiert, wäre er (der winzige Aspekt) in der breiten Masse aus Informationen, die täglich auf dich eindreschen, verborgen geblieben.

Eine Art Ent-Verallgemeinerung, wenn ich es mal so sagen darf, denn im Prinzip begleitet uns Menschen ja eine solche Unzahl von Themen, Dingen, Wahrnehmungen, dass wir unsere geringe Kapazität, des Sehens, Hörens, Riechens, Bewusstwerdens stets bündeln müssen und das meiste, das uns umgibt ausblenden müssen.

Das Prinzip des geschärften Blicks funktioniert also nicht nur mit der Fotografie (welchem Sujet wende ich mich zu, Bäume, Architektur, Akt, Hund, Katze, Maus), sondern auch bestens mit Geschichte.

Stolpersteine. So wichtig. So umstritten, so kontrovers diskutiert.

Nachdem ich im November und Dezember einige Kurztrips, meist per Fahrrad zu den Stolpersteinen der näheren Umgebung gemacht hatte, war klar, dass das Projekt in seiner nächsten Phase, der aktiven Reisephase von Berlin in die Schweiz ebenfalls Stolpersteine thematisieren sollte. Wo überall auf Cioma Schönhaus Fluchtroute sind heutzutage Stolpersteine zu finden? In welchen Dörfern und Städten erinnern diese kleinen Bodendenkmäler an die Schicksale Verfolgter, die nicht das Glück hatten, sich zu retten?

Eine Landkarte musste her. Also nahm ich das Tool, das sich schon bei zwei vorhergehenden Blogprojekten bewährt hatte zur Hand, Umap, und begann eine Karte zu skizzieren. Im Prinzip funktioniert Umap, meine ‚Kartenmalmaschine‘ ähnlich wie der Routenplaner in Google Maps, bzw. die Dienste von Google Drive. Nur, dass man als Basiskarten auch topografische Karten einblenden kann, je nach Herzenslust, oder sich das Fernradwegenetz anzeigen lassen kann, was sich als besonders nützlich erweisen sollte.

Zunächst setzte ich in einer Kartenebene alle Orte, die in Cioma Schönhaus‘ Buch ‚Der Passfälscher‘ zu finden waren, die er bei seiner Flucht passierte. Nicht sehr viele. Im Passfälscher gibt es nur ein kurzes Kapitel, das von der Fluchtroute erzählt. Die Punkte dienten mir für die Planung meiner eigenen Route. Schon von Anfang an war mir klar, dass ich die Originalroute nie und nimmer rekonstruieren könnte – nicht einmal Cioma Schönhaus hätte das gekonnt, denke ich. Und es war auch klar, dass ich den Projekt-Masterplan als fahrradtaugliche Strecke planen müsste. Wohl wissend, dass ich deshalb von Ciomas Route sicher weit abweichen würde. Es spielt keine Rolle. Was zählt, ist der Versuch, unterwegs dem Fliehenden nahe zu kommen.

Ich male eine blaue Linie vor ein paar Tagen, die von Berlin über Bad Düben, Halle, Bamberg, Stuttgart und Lindau nach Feldkirch führt. Ich ziehe die Linie entlang der Radwegekarte. Mein Touristenherz jubelt beim Anblick solch bizarrer, nie gehörter Radwegenamen wie etwa ‚Fuhne‘ und ‚Loquitz‘. Mein DIY-Historikerhirn mahnt immer wieder, nimm es nicht zu leicht, Junge, denk an Cioma, das ist kein Spaß. Es ging um Leben und Tod und der Antagonist meines Historikerhirns beschwichtigt, ach was, du Mensch in Deiner Zeit mit Blick auf anderen Menschen in deren Zeit, du bis der Klotz am Bein der Realität, machs Dir kommod, schließlich musst du dich auch selbst bei Laune halten und so sehe ich mich vor dem Monitor auf der Landkarte Linien malen und Punkte setzen und Orte beäugen, stets hin und hergerissen … ein Teil von mir will direkt losradeln in der Sophienstraße in Berlin, raus aus der Stadt, träumt sich voran auf dem Radweg Berlin-Leipzig, vorbei an Bitterfeld, rein nach Halle, raus aus Halle, ewig lang dem Saaleradweg folgend. Ein anderer Teil ergötzt sich an bizarren Ortsmarken und seltsamen Namen, stellt sich Flüsse vor, deren Tal er folgen würde und nie nie nie geht es bergauf in dieser kleinen Mit-dem-Finger-an-der-Maus Radler Phantasie.

Ein dritter Teil baut längst an einer weiteren Kartenebene, in der sämtliche Orte am Rande der Strecke markiert sind, in denen Stolpersteine verlegt wurden. Eine ganz schön komplexe Aufgabe. Zwar stößt man bei der Webrecherche auf eine Open Street Map Karte, in der Stolpersteine verzeichnet sind, doch die Karte ist kaum gepflegt, lädt langsam, scheint sich ohnehin nur auf den Hamburger Raum zu konzentrieren.

Somit ist der Kartenskulpteur, moi même, auf viel händische Arbeit angewiesen. Zunächst erstelle ich eine Liste aller Ortsnamen, die ich am Rande meiner Route finde (siehe voriger Blogeintrag), um sodann die Ortsnamen im Browser auf der offiziellen Stolpersteinseite einzugeben und per Suchfunktion in Gunter Demnigs Chronik die Verlegungen herauszufinden. Leider ist die Seite so konstruiert, dass man sie nicht ohne weiteres durchsuchen kann und ich muss auf den Quelltext zurückgreifen. Immerhin, es funktioniert. Langsam wächst in den vergangenen Tagen die Spur goldgelber Marker, die ich in meiner Projektkarte auf einer eigenen Ebene liste. Ich füge den Ortsmarken mit den Stolpersteinen weitere Informationen hinzu – bin ich eigentlich digitaler Skulpteur oder eher Plastiker? Skulpteure nehmen weg. Plastiker pappen drauf. Ich mache eigentlich beides. Das Gebilde, die Landkarte kommt mir tatsächlich ein bisschen vor wie ein bildhauerisches Werk, auch wenn es am Monitor recht flach ist und ohnehin bei näherer Überlegung nur aus Einsen und Nullen besteht.

Natürlich sichte ich Links und Referenzen. Fast für alle Orte, an denen Stolpersteine verlegt wurden, existiert auf Wikipedia eine Liste mit den Steinen. Sehr hilfreich, auch wenn diese Listen (siehe Zweibrücken, meine Heimatstadt) nicht immer aktuell sind. Auch meine Karte wird irgendwann nicht mehr aktuell sein, wird mir klar. Irgendwann beendet jeder Bildhauer die Arbeit an seinem Werk. Dann steht es. Und erinnert. Bewegt. Stört. Regt an. Wohl auch dieses Blog. Man muss sich dem Voranschreiten der Zeit hingeben als Mensch, so schwer es fällt. Und dem Fakt, dass man nicht auf alle Ewigkeit an einer Sache werkeln kann, sie freilassen, die Sache.

Einige der Städte und Gemeinden haben eigene Stolpersteinseiten eingerichtet, allen voran Berlin, aber auch Wittenberg; die Gemeinde Öhringen hat für alle jüdischen Opfer einen Stolperstein verlegt und pflegt eine eigene Seite darüber. In Leuna erinnert man an fünfzehn Kinder von Zwangsarbeiterinnen, die kurz nach der Geburt ermordet wurden oder man ließ sie verhungern. Keines erlebte seinen zweiten Geburtstag.

Andernorts springen private Initiativen in die Presche, wenn von Gemeindeseite nichts kommt. In Villingen-Schwenningen etwa wurden lange Jahre und über mehrere Gemeinderatsabstimmungen offizielle Stolpersteinverlegungen abgelehnt (es gibt auch Gründe, die gegen Stolpersteine sprechen (hierzu ist ein Blogartikel im vergangen Dezember in Arbeit, der noch nicht veröffentlicht wurde). Eine private Initiative pflegt stattdessen das Gedenken. Erst 2020 stimmte der Gemeinderat der Stadt mehrheitlich für Stolpersteinverlegungen.

Mir wird bewusst, dass mir der Bau der Karte, so anstrengend und aufwändig es auch war, einige wichtige Informationen brachte, einige Denkanstöße fürs Vorankommen dieses Blogs. Und auch wenn die Karte immer noch recht skizzenhaft ist, bietet sie mir nun einen guten Ausgangspunkt für meine weitere Arbeit, sei es rein virtuell recherchierend, aber auch als perfekte Wegskizze für eine echte Reise, die ich natürlich per Fahrrad antreten werde.

Hier geht es zur Projektkarte ->

 

Wege und Stolpersteine

Liste von Radwegen und Orten. In Orten, die mit (S) gekennzeichnet sind, wurden Stolpersteine verlegt (Stand Januar 2021, Quelle Chronik von stolpersteine.eu). Im Netz findet man hin und wieder Karten mit Stolperstein-Verlegungsorten. Eine vollständige und gepflegte Karte ist jedoch nicht zu finden. Im Fall der Routenplanung ging ich bei der Lokalisierung der Stolpersteine von der Originalseite Gunter Demnigs aus und nutzte die Chronik, in der alle Verlegeaktionen seit  2003 chronologisch gelistet sind. Ich musste dabei auf den Quelltext der Seite zugreifen und ihn mit der Suchfunktion des Browsers händisch nach Stolpersteinen in den Orten am Wegesrand durchsuchen. Dies ist mit ein Grund, weshalb diese Liste aller durchquerten Städte, Dörfer und Weiler entstand. Das Suchprinzip war einfach: Ortsname eingeben und schauen, ob es in Herrn Demnigs Liste einen Treffer erzielt. Zwischenzeitlich überlegte ich, ein Skript zu schreiben, das den Abgleich vornimmt, verwarf die Idee aber, da das Skripten wahrscheinlich länger gedauert hätte als der händische Durchlauf. Es wäre jedoch ein Denkanstoß für die Zukunft zur Pflege der Stolpersteinorte in Form interaktiver Karten. Zumal das Projekt weiter voranschreitet.

Projektplanung  Stand Januar 2021, Orte und Stolpersteine noch nicht vollständig recherchiert. Hier geht es zur Projektkarte ->

Radweg Berlin Leipzig (RBL) ->

Berlin-Jüterbog-Bad Düben

  • Berlin (S, viele)
  • Blankenfelde/Mahlow (S, Jul. 2010)
  • Dasow
  • Dahlewitz
  • Rangsdorf
  • Groß Machnow
  • Dabendorf
  • Zossen (S, Nov. 2008, Nov. 2012)
  • Finkenherd
  • Mellensee
  • Rehagen
  • Sperenberg
  • Schönefeld
  • Stülpe
  • Holbeck
  • Janickendorf
  • Neuhof
  • Werder
  • Jüterbog (S, Nov. 2015)
  • Niedergörsdorf
  • Dennewitz
  • Göldorf
  • Seehausen
  • Naundorf bei Seyda
  • Zahna
  • Bülzig
  • Wiesig
  • Labetz
  • Lutherstadt Wittenberg (S, Mai 2008, Aug. 2009, Okt. 2010, Okt 2011, Mrz. 2014)
  • Pratau
  • Kienberge
  • Klitzschena
  • Bergwitz
  • Reuden
  • Kemberg (Bußdorf)
  • Lubast
  • Ateritz
  • Gottwaldmühle
  • Sackwitzer Mühle
  • Rote Mühle
  • Reinharz
  • Großwig
  • Bad Schmiedeberg
  • Hammermühle
  • Bad Düben
Mulderadroute (VMU) Vereinte Mulde ->

Bad Düben-Jessnitz

  • Bad Düben
  • Löbnitz
  • Pouch
  • Mühlbeck
  • Friedersdorf
  • Muldenstein
  • Jessnitz
3. Fuhneradweg (Fuhne) ->

Jessnitz-Schortewitz

  • Jessnitz
  • Bitterfeld-Wolfen (S, Feb. 2019, April 2013)
  • Krondorf
  • Reuden
  • Salzfurtkapelle
  • Wehlau
  • Zehbitz
  • Zehmitz
  • Radegast
  • Gottnitz
  • Gösitz
  • Priesdorf
  • Schortewitz
4. Halle-Fuhne-Köthen (Hal-Kö) ->

Schortewitz-Halle Wohnstadt-Nord

  • Schortewitz
  • Mosthinsdorf
  • Kösseln
  • Drehlitz
  • Kütten
  • Seeben
  • Halle Wohnstadt-Nord
5. Nordbad-Brachwitz Saaleradwegverbindung (No-Sa) ->

Halle Wohnstadt-Nord- Giebichenstein

  • Halle Wohnstadt-Nord
  • Giebichenstein (Halle)
6. Saaleradweg (SAA) ->

Giebichenstein (Halle)-Kaulsdorf

  • Giebichenstein
  • Halle (S, Nov. 2020, Nov. 2019, Mai 2019, Mrz 2018, Nov. 2016, Nov. 2015 (?), Okt. 2014 (?), Sept. 2013, Nov. 2012, Okt 2011, Okt. 2010, Aug. 2009, Mai 2008, Dez. 2007, Mai 2007, Dezember 2006, April 2006, Juni 2005, Okt. 2004, Mai 2004 (zwischen Dezember 2006 und Oktober 2011, sowie bei den mit (?) gekennzeichneten Verlegedaten fehlt genaue Bezeichnung (an der Saale bzw.Sachsen-Anhalt))
  • Röpzig
  • Hohenweiden
  • Rattmansdorf
  • Planena
  • Korbetha
  • Schkopau
  • Merseburg (S, Sept. 2014, Okt. 2011, Mai 2008)
  • Leuna (S, Okt. 2011, Juni 2018)
  • Daspig
  • Kröllwitz
  • Kirchfährendorf
  • Bad Dürrenberg (S, Okt. 2011)
  • Goddula
  • Festa
  • Großkorbetha
  • Schkortleben
  • Kriechau
  • Burgwerben
  • Weissenfels (S, Mai 2008, Sept. 2014, Juni 2010, April 2009)
  • Leißling
  • Schönburg
  • Naumburg (S, März 2014, Juni 2010, Aug. 2009)
  • Almrich
  • Bad Kösen
  • Saaleck
  • Kleinheringen
  • Kaatschen
  • Stöben
  • Camburg
  • Döbritschen
  • Würchhausen
  • Dornburg
  • Dorndorf
  • Golmsdorf
  • Prostendorf
  • Kunitz
  • Jena (S, Mai 2019, März 2015, Juni 2011, Juni 2010, Mai 2008, August 2009, Mai 2007)
  • Lobeda
  • Mau
  • Rothenstein
  • Oelknitz
  • Jägersdorf
  • Schöps
  • Großpürschütz
  • Kahla (S, Sept. 2016)
  • Kleineutersdorf
  • Freienorla
  • Niederkrossen
  • Zeutsch
  • Oberkrossen
  • Weißen
  • Kolkwitz
  • Catharinau
  • Rudolstadt-Schwarza (S, Juni 2010)
  • Remschütz
  • Graba
  • Saalfeld (S, Mai 2008)
  • Köditz
  • Obernitz
  • Weischwitz
  • Breternitz
  • Kaulsdorf
7. Loquitz (Loqui) ->

Kaulsdorf-Alexanderhütte

  • Kaulsdorf
  • Kaulsdorf-Eichicht
  • Hockeroda
  • Unterloquitz
  • Arnsbach
  • Schaderthal
  • Oberloquitz
  • Marktgölitz-Gabe Gottes
  • Probstzella
Europäische Radroute Eiserner Vorhang (EV 13) ->

Probstzella-Alexanderhütte

  • Probstzella
  • Falkenstein (S, Juli 2013 (Falkenstein im Vogtland))
  • Lauenstein
  • Ebene
  • Springelhof
  • Lichtenhain
  • Spechtsbrunn
  • Tettau
  • Alexanderhütte
Obermain Frankenwald Tour (OFT) (ähnliche Route wie Lions) ->

Alexanderhütte-Hochstadt am Main

  • Alexanderhütte
  • Sattelgrund
  • Schauberg
  • Heinersdorf
  • Neukenroth
  • Stockheim
  • Gundelsdorf
  • Knellendorf
  • Blumau
  • Wilhelmshöhe
  • Kronach (S, Juli 2018, Sept. 2017)
  • Ziegelerden
  • Froschbrunn
  • Neuses
  • Johannisthal
  • Küps
  • Oberlangenstadt
  • Unterlangenstadt
  • Redwitz an der Rodach
  • Zettlitz
  • Hochstadt am Main
Main Radweg ->

Hochstadt am Main-Gaustadt-Bamberg

  • Hochstadt am Main
  • Schwürbitz
  • Michelau in Oberfranken
  • Oberwallenstadt
  • Lichtenfels (S, April 2019, Nov. 2018)
  • Burgberg (S, Juli 2014, vermutlich jedoch Burgberg im Oberallgäu)
  • Seubelsdorf
  • Grundfeld
  • Schönbrunn
  • Bad Staffelstein
  • Unterzettlitz
  • Niederau
  • Ebensfeld
  • Oberbrunn
  • Unterbrunn
  • Zapfendorf
  • Ebing
  • Rattelsdorf
  • Unteraberndorf
  • Breitengüßbach
  • Kemmern
  • Hallstadt
  • Bamberg (S, März 2020, Okt. 2017, Nov. 2016, Mai 2015, Nov. 2014, Sept. 2013, April 2013, Okt. 2012, Juli 2012, Juni 2011, Sept 2010, März 2009, Juli 2008, Juli 2006, Dez. 2004, März 2004)
Fürstbischöfliche Radtour (FBR) -> (eventuell weglassen und über Mainradweg bis Viereth und auf den Radweg Vom Main zur Zenn)

Gaustadt-Burgebrach

  • Gaustadt
Vom Main zur Zenn (MZ) ->

Burgebrach-Gutenstetten (Viereth falls nicht über die Kurfürstliche Radtour direkt nach Burgebrach)

  • Burgebrach
Aischtalradweg (A) ->

Bamberg-Gutenstetten-Neustadt an der Aisch-Rothenburg ob der Tauber

  • Gutenstetten
  • Bamberg
  • Strullendorf
  • Hirschaid
  • Altendorf
  • Seußling
  • Trailsdorf
  • Hallerndorf
  • Willersdorf
  • Haidt
  • Lauf
  • Uttstadt
  • Adelsdorf
  • Nainsdorf
  • Medbach
  • Höchstadt an der Aisch
  • Greiendorf
  • Sterpersdorf
  • Weidendorf
  • Foggendorf
  • Demantsfürth
  • Dachsbach
  • Gerhardshofen
  • Rapoldshofen
  • Reinhardshofen
  • Diespeck
  • Neustadt an der Aisch (S, April 2013)
  • Schauerheim
  • Dietersheim
  • Dottenheim
  • Ipsheim
  • Oberndorf
  • Lenkersheim
  • Bad Windsheim
  • Urfersheim
  • Marktbergel
  • Burgbernheim
  • Steinach bei Rothenburg
  • Endsee
  • Hartershofen
  • Schweinsdorf
  • Rothenburg ob der Tauber (S, April 2013)
Paneuropa-Radweg (PAN) ->

Rothenburg ob der Tauber-Heilbronn

  • Rothenburg ob der Tauber
  • Hemmendorf
  • Leuzenbronn
  • Enzenweiler
  • Spindelbach
  • Hechelein
  • Windisch Bockenfeld
  • Funkstatt
  • Schrozberg
  • Erpfersweiler
  • Lentersweiler
  • Billingsbach
  • Hertensteiner Mühle
  • Brüchlingen
  • Atzenrod
  • Langenburg
  • Bächlingen
  • Zottishofen
  • Jungholzhausen
  • Schalhof
  • Braunsbach
  • Geislingen am Kocher
  • Enslingen
  • Untermunkheim
  • Gelbingen
  • Schwäbisch Hall (S, April 2006, Okt 2005)
  • Gottwollshausen
  • Wackershofen
  • Gailenkirchen
  • Goldbach
  • Waldenburg
  • Kesselfeld
  • Obereppach
  • Eppacher Mühle
  • Eichhof
  • Neuenstein
  • Cappel
  • Öhringen (S, April 2017, Nov. 2011)
  • Verrenberg
  • Bretzfeld
  • Rappach
  • Scheppach
  • Wieslendorf
  • Eschenau
  • Affaltrach
  • Wilsbach
  • Sulzbach
  • Ellhofen
  • Weinsberg
  • Heilbronn (S, Juli 2016, Juni 2016, Sept 2015, Mai 2015, Juni 2014, April 2013, April 2012, April 2011, April 2010, Mai 2009, Mai 2020, Juli 2019, Juli 2018, Juni 2017)
Neckar-Radweg (NT) ->

Heilbronn-Villingen-Schwenningen

  • Heilbronn
  • Horkheim
  • Lauffen am Neckar
  • Kirchheim am Neckar
  • Walheim
  • Schimmelfeld
  • Bülzen
  • Hessigheim
  • Mundelsheim
  • Pleidelsheim
  • Großlingersheim
  • Freiberg a. N.
  • Benningen a. N.
  • Marbach a. N. (S, Juni 2019, Nov. 2014)
  • Ludwigsburg (S, Juli 2018, Okt. 2016, Mai 2015, Mai 2014, April 2013, April 2012, April 2011, Okt. 2009, Sept 2008, Juli 2020)
  • Neckargröningen
  • Aldingen
  • Feuerbach
  • Stuttgart (S)
  • Degerloch
  • Ostfildern
  • Esslingen a. N. (S, Nov. 2013, Sept. 2012, Nov. 2011, Mai 2010, Sept. 2008)
  • Altbach-Deizisau
  • Plochingen
  • Wernau (S, April 2012)
  • Köngen
  • Unterensingen
  • Zizishausen
  • Oberensingen
  • Nürtingen
  • Neckarhausen
  • Neckartailfingen
  • Neckartenzlingen
  • Mittelstadt
  • Plietzhausen
  • Oferdingen
  • Kirchentellinsfurt
  • Tübingen (S, Juli 2020, Juli 2018, Nov. 2011)
  • Hirschau
  • Rottenburg a. N. (S, Juni 2014)
  • Schwalldorf
  • Bierlingen
  • Sulzau
  • Eyach
  • Ahldorf
  • Nordstetten
  • Horb a. N. (S, Sept. 2013, Sept. 2012, Nov. 2011, Nov. 2014)
  • Isenburg
  • Dettingen
  • Fischingen
  • Holzhausen
  • Sulz a. N.
  • Aistaig
  • Oberndorf a. N.
  • Altoberndorf
  • Epfendorf
  • Talhausen
  • Villingendorf
  • Rottweil
  • Bühlingen
  • Lauffen ob Rottweil
  • Deißlingen
  • Trossingen
  • Villingen-Schwenningen (S, Nov. 2004 Vortrag; in VS wurde die Verlegung von Stolpersteinen zunächst per Beschluss durch den Gemeinderat 2004 und 2013 abgelehnt, 2020 aber mehrheitlich befürwortet. Die Initiative Pro Stolpersteine ist seit 2014 als eingetragener Verein tätig).
Heidelberg-Schwarzwald-Bodensee (HSB) ->

Schwenningen-Radolfszell

  • Schwenningen
  • Donaueschingen
  • Huefingen
  • Sumpfohren
  • Fürstenberg
  • Höndingen
  • Blumberg-Riedöschingen
  • Tengen
  • Büßlingen
  • Riedheim
  • Hilzingen
  • Twielfeld
  • Singen (S, Juli 2019)
  • Rielasingen-Worblingen
  • Überlingen am Ried
  • Radolfzell (S, Sept. 2015, Juni 2014, Sept. 2020)
Bodenseeradweg (BSR) ->

Radolfzell-Konstanz-Lindau-Bregenz

  • Radolfzell
  • Güttingen
  • Stahringen
  • Bodmann
  • Ludwigshafen a. B.
  • Sipplingen
  • Hödlingen
  • Goldbach
  • Überlingen (S, April 2005, Juli 2020)
  • Nußdorf
  • Unteruhldingen
  • Meersburg
  • Hagnau a. B.
  • Immenstaad a. B.
  • F.-Fischbach
  • F.-Manzell
  • F.-Niederholz
  • Friedrichshafen (S, Sept 2013,
  • Eriskirch
  • Gmünd
  • Langenargen
  • Kressbronn
  • Nonnenhorn
  • Wasserburg
  • Bad Schachen
  • Lindau (S, Juli 2010)
  • Lindau-Reutin
  • Lochau-Hörbranz
  • Bregenz
Dörfer-Städte-Route (OR2) ->

Bregenz-Feldkirch

  • Bregenz
  • Lauterach
  • Wolfurt
  • Schwarzach
  • Haselstauden
  • Dornbirn
  • Hatlerdorf
  • Unterklien
  • Hohenems (S, Juni 2014 (https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Vorarlberg))
  • Kossa
  • Altach
  • Götzis
  • Röthis
  • Sulz
  • Rankweil
  • Feldkirch

 

Berlin – Schweiz. Eine Skizze

In der Karte sind alle mir bekannten Orte, die Cioma Schönhaus auf seiner Flucht durchradelte  verzeichnet. Ich habe eine noch recht ungenaue Skizze darüber gelegt, um die Fluchtroute per Fahrrad auf Radrouten nachzuempfinden. Die Flucht führte vermutlich über Reichsstraßen durch größere Städte. Straßen, die man heutzutage wegen der Verkehrssituation nicht radeln könnte. Verzeichnet ist die Strecke Berlin Bamberg Stuttgart Feldkirch. In Feldkirch scheiterte Cioma Schönhaus mit der Idee, auf einem Güterwagen der Bahn in die Schweiz zu fliehen. Beinahe hätte man ihn gefasst. Er floh via Lindau nach Radolfszell und konnte nahe Öhningen in die Schweiz entkommen.

Vollbildanzeige

 

Karten malen

Der Weg, die Steine, das Stolpern, das Vorankommen. Ohne Stolpersteine komme ich vermutlich nicht weiter. Das wurde mir nach den Recherchen vor Ort in Zweibrücken, Herschberg und Niederwürzbach bewusst.

Dass jeder Stolperstein wie eine Spitze hartnäckig mahnend ein Menschenschicksal unter sich ausbreitet … ich glaube, diese Erkenntnis, oder besser, das diffuse Gefühl für das Bild kam mir in Niederwürzbach bei den Stolpersteinen für Georg und Otto Bieg. Mitte November suchte ich die beiden Steine (Link zum Artikel), die beiden Menschenleben, ihre Träume, Hoffnungen und Ängste während einer Assistenzfahrt für meinen Freund Journalist F.

Georg wurde wegen Verdachts auf kommunistische Umtriebe nach Dachau deportiert und starb an den Haftfolgen. Otto hatte den Dienst verweigert, wurde am 10. Juli 1944 verhaftet und am 11. Juli hingerichtet. (Link zum Artikel einfügen).

Erstmals spürte ich den Sog, den die winzigen Steine ausüben. Wenn man sich einlässt. Die Skizzen von Menschenschicksalen auf den Steinen geben ein sehr grobes Bild des Geschehens, des Unrechts und sie lassen gleichzeitig genug Raum für die Phantasie. Seit dem Niederwürzbacher Aha-Erlebnis stelle ich mir bei jedem Stolperstein, den ich sehe vor, was das für ein Mensch gewesen sein mag, an den der Stein erinnert. Es spielt dabei zunächst keine Rolle, ob mein Bild, das ich mir mache, auch zutrifft. Recherchieren lässt es sich oft, nicht immer und nur sehr selten wohl so gut wie bei Walter Frick (Link einfügen).

Nun reift der Plan für die zweite Phase meines Passfälscher-Projekts: Auf Basis von ausgeschiderten Fahrradrouten plane ich eine Strecke entlang der wenigen bekannten Orte, die Cioma Schönhaus auf seiner Flucht berührte. Es sind dies:

  • Berlin
  • Bad Düben
  • Halle, Gasthaus zum Krug
  • Wittenberg Gasthaus Zur Traube
  • Eine Saalebrücke (Cioma erwähnt ein Lied)
  • Bamberg Gasthaus Zum Bamberger Reiter
  • Stuttgart (Pfarrer Müller) und Degerloch (Pfarrer Forster), Straßenbahn nach Degerloch
  • Stuttgart Hotel Anker (inklusive Passfälschung To Go)
  • Lindau
  • Feldkirch Zum Löwen
  • Radolfszell
  • Öhningen
  • Schweiz

Ortsangaben, die im Buch Der Passfälscher zu finden sind. Die Passage über die Flucht per Fahrrad von Berlin in die Schweiz ist nur sehr kurz gegen Ende als grobe Reiseskizze angelegt.

Ich möchte entlang der Route Ausschau nach Stolpersteinen halten. Die Strecke kann ich sowohl virtuell, als auch ‚in echt‘ bewältigen, je nach Entwicklung der Pandemie. In echt wäre mir lieber, denn, wie schon im vorigen Artikel erwähnt, Bewegung strukturiert mein Denken und vereinfacht den Schreibprozess.

Eine Routenplanung werde ich auf einer selbst gezeichneten Umap skizzieren. Schwierig wird es, die Stolpersteine zu finden. Zwar sind auf der Seite stolpersteine.eu alle Verlegungen gelistet, aber die Seite ist nur im Quelltext nach Orten durchsuchbar. Die Daten liegen chronologisch vor als fortlaufende Liste nach Verlegungsdatum seit 2003. Vermutlich ist es die einzige Quelle, die alle Steine listet, immerhin … Wikipedia-Artikel über Steinverlegungen nach Kommunen sortiert gibt es zwar jede Menge, aber sie weisen arge Lücken auf, wie ich feststellen musste.

Kurzum. Viel Verwaltungs- und Recherchearbeit für den nicht in Bewegung seienden Künstler in Bewegung auf den Spuren des Cioma Schönhaus.

Zwischenbericht

Hintergrundarbeit. So wichtig. Fundamente bauen. Pläne kritzeln. Notizen machen. Bücher lesen. Stolpersteine der eigenen Umgebung suchen. Sich den Kopf darüber zerbrechen, ob Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen einen Alltag haben. Ob sie Lebenspläne haben (außer Überleben/Entrinnen). Glück? Glückliche Momente? All die Ungerechtigkeit in unmittelbarer Körper- und Seelennähe. Wie geht man damit um? Wie verkraftet man das?

Ein kurzes Update dieses Blogs. Es gibt eine Menge ungarer Texte und Notizen, die ich noch nicht publizieren kann. Gedankenrohkost. Sowie eine Erkenntnis. Ich muss tatsächlich reisen, um dieses Projekt durchzuführen. Rein virtuell wie bei dem Projekt Radlantix, wird nicht genügen. Das Thema ist schwer. So schwer, dass es, verschanzt hinter dem eigenen Schreibtisch, fast unbearbeitbar erscheint. Zudem habe ich so viele Informationen und weiß nicht, wie ich sie gliedern soll. Für gewöhnlich ordnet der rein physische Reiseprozess meine Texte und ich muss nichts tun, als in die Pedale zu treten, vorankommen und auf dem Smartphone mitzuschreiben. Hier ist das anders. Eine schwere Vergangenheit. Wenn ich nur überlege, dass ich jedem Stolperstein auf dem Weg in die Tiefe folgen könnte und ein großes Menschenschicksal darunter finde, es bricht mir das Herz. Es lenkt mich ab und dennoch lenkt es die Sinne auch in die richtige Richtung. Hin auf Beispielloses.

Wie es hier weitergeht? Die Skizzen und Fragmente im Blog werde ich nach und nach als eine Art Prolog offenlegen. Ich muss das noch einmal durchschauen, bevor ich veröffentliche.

Schließlich die Reise. Per Fahrrad durch die wenigen bekannten Orte, die auch Cioma Schönhaus passierte. Vermutlich reise ich in umgekehrter Richtung. Von der Schweiz nach Berlin. Als wolle ich einen Kreis schließen? Vermutlich werde ich Fernradwege benutzen. Vermutlich wird es minimaltouristisch mit sehr schwerem Gepäck. Womöglich dauert das noch eine ganze Weile, denn die Pandemie hält sich hartnäckig. Unterwegs sein ist nicht gut dieser Tage.

Linkliste

Überleben im Holocaust 1. 3. bis 27. 8. 2021 in der Arte Mediathek: https://www.arte.tv/de/videos/100291-001-A/re-ueberleben-im-holocaust/

Akte Grüninger, Fernsehfilm, SRF, Grenzenpolitik Schweiz (empfohlen von Stefan Bamberg, 6. 11. 2020)
https://www.3sat.de/film/fernsehfilm/akte-grueninger-106.html
Artikel über Cioma Schönhaus im Tagesspiegel, 22. 1. 2016, empfohlen von Stefan Bamberg)
https://www.tagesspiegel.de/berlin/samson-cioma-schoenhaus-geb-1922/12863586.html
Bericht im SRF 16. 12. 2004
https://www.srf.ch/play/tv/aeschbacher/video/cioma-schoenhaus?urn=urn:srf:video:a8078d15-0a10-4fbb-9945-4935e1201111
Stolpersteine in der Schweiz, empfohlen von Denise Maurer, 28. 11. 2020
https://www.beobachter.ch/politik/holocaust-gedenken-mahnmale-fur-schweizer-nazi-opfer-gesetzt?utm_source=facebook&utm_medium=social&utm_campaign=article_traffic&fbclid=IwAR1OkkEw4-7GWPRNd5xGdkEyqEXZKRdf0i1-wwei76SLJHexGCHuCi1EJoI

https://www.stolpersteine.ch/

Gunter Demnigs Stolpersteinprojekt seit 1996 (erste Verlegung 1996 in Berlin Kreuzberg, später offizielle Verlegungen ab 2000, Entwurf der Idee 1993)

http://www.stolpersteine.eu

Stolpersteine in Berlin

https://www.stolpersteine-berlin.de/de/stolpersteine-finden

Projektkarte Passfälscher 2.0 auf uMap

http://umap.openstreetmap.fr/de/map/passfalscher_549212#6/49.390/9.141

Stolpersteine in Orten, durch die die Projektroute führt (Wikipediaartikel).

 

 

 

Von unendlichstelligen negativen Zahlen und eigenen Wegen

Ich darf den prozessualen Fortgang dieses Blogs nicht ignorieren. Besser gesagt, ich muss mir dessen erst einmal bewusst werden. Lange Tage habe ich das Schreiben schleifen lassen, dachte nach, fand keine rechte Idee, die der Schwere des Themas gerecht werden könnte, zweifelte ein wenig, ebenso wie ich phantasierte und Auswege suchte aus dem Dilemma.

Nun wird mir klar, wenn ich so weiter mache, wird am Ende zwar alles gedacht sein, aber nichts davon gesagt. Wenn ich mit dem Denken voran, voran und voran schreite, durchlaufe ich nach und nach alle Schleifen und lege die Ergebnisse ab, die mit jeder weiteren Denkschleife wertloser und alt werden. Wie Holz, das man im Frühjahr zerkleinert im Wald liegen lässt. Schutzlos ohne Abdeckung und Trocknungsmaßnahmen geht es den Weg jedes Baumgeschöpfs, das auf natürliche Weise fällt. Die Natur zersetzt es. Es wird in einen Zustand zurückversetzt, in dem das einst so stolze Baumgeschöpf es nie dagewesen sein könnte.

Manchmal frage ich mich, ob eine Zeit kommen wird, in der wir Menschen nie gedacht, gehandelt, erlebt, reagiert, geschaffen und vernichtet haben werden. Eine Zeit ohne jegliche Spur. Millionen Jahre entfernt von heute.

Alles wird vergeblich gewesen sein, dem wir heute Bedeutung beimessen und dennoch wird das, was dann ist nicht existieren können, ohne dass diese unsere Stufe des Prozesses durchlaufen wurde.

Unsere trostlose kleine Zeit, in der wir einander und dem Planeten so viel Leid zufügten wird einige zehntausend Jahre gedauert haben und von dem Geist, den wir hätten entwickeln können und der uns auf eine vielleicht höhere Stufe hätte bringen können, der eine fürdere Existenz ermöglicht haben könnte, bleibt nichts übrig.

Als Mensch meiner Zeit predige ich so gerne das Glück im Jetzt: den in vollen Zügen genossenen Augenblick, der doch nur eine Illusion ist. Natürlich ist es möglich, Glück zu empfinden. Es ist auch erlaubt. Nimmt man die Glücksmomente aller Menschen jetzt in dieser Sekunde, in der dies gelesen wird zusammen und zieht auch noch das Glück aller anderen irgendwie zu Empfindungen fähigen Lebewesen auf diesem Planeten mitein … ich weiß nicht, was unter dem Strich als Bilanz steht. Persönlich vermute ich ein Desaster. Eine Bankrotterklärung ans Universum.

Dieses Blogprojekt ist vermutlich ein Prozess, wurde mir vorhin bewusst. Ich stieg die kleine hölzerne Treppe hinauf in die Küche der Künstlerbude, gab zwei Löffel löslichen Kaffee in eine Tasse, schüttete Heißwasser darauf, das ich zuvor in einem Wasserkocher erhitzt hatte. Dazu ein bisschen Milch und zurück zum Arbeitsplatz, der im einzigen beheizbaren, etwa 12 Quadratmeter großen Raum der Künstlerbude liegt. Die Nacht war frostig. Raureif liegt auf den Feldern, bis fast zum Haus; wenige Meter vor den Mauern hört die Spur des Reifs auf, ist das Gras nicht gefroren, herrschten auch ganz früh heute offenbar noch Temperaturen über null Grad. Gutso. Nicht gutso. Der zweite fast frostfreie November in Folge, wenn ich mich erinnere. Das Klima wandelt sich rasant. Ich lebe in einer kaputten Welt voller Probleme. Die Zahl, die unter dem Strich meiner großen Weltenglücksbilanz steht, dürfte knallrot sein. Eine unendlichstellige negative Zahl.

Warum ich das schreibe? Es muss weitergehen hier in diesem Blog. Hatte ich anfangs noch in klassischen schreiberischen Dimensionen gedacht mit Helden und Antihelden und einem Thema, an dem man sich festbeißt, das man akribisch durcharbeitet, auf ein Ergebnis hinarbeitet, bin ich nun etwas fataler geworden und denke, ich sollte mir eine Laissez-Faire-Attitüde zulegen, in der ich dieses Blogbuch einfach geschehen lasse. Dem eigenen Hirn mehr Freiraum geben, nicht darauf hören, was von Außen einprasselt und beeinflusst, beflügelt oder bremst, günstigenfalls einem stillen Fluss an Gedanken dabei zuschauen, wie er sich von den Schluchten des Gebirges durchs Land frisst und am Ende in einem wildbewucherten Delta in ein Meer mündet.

Das Buch übers Buch übers Buch in Blogform, das ist es doch, was du immer wolltest, Herr Irgendlink, oder?

Die Stolpersteine im Hinterstübchen, all die Namen, Cioma und seine Spur durch Deutschland in die Schweiz, von der ich noch immer nicht herausfinden konnte, wie die Fluchtroute verlief. Will ich es überhaupt herausfinden?

Vor bald einem viertel Jahrhundert, ich war jung, predigte ich meinem besten Freund Paul einmal, so und so, das und das könnte dir helfen und ich beschrieb ihm genau meinen Weg, wie er für mich plausibel schien und gehbar und heilsversprechend. Paul schaute mich an und sagte, alles schön und gut, aber ich muss den Paul in mir finden.

Es gibt unendlich viele begangene Wege, die allesamt richtig waren oder falsch, verirrt oder bekannt, echt oder getäuscht und allen gemeinsam ist nur eins, dass es eigene Wege waren. Selbst die Wege, derer es bestimmt eine sehr große Menge sind, die den Wegen anderer vermeintlich folgen, sind eigene Wege. Man kann wunderbar dem Weg anderer folgen als Mensch und glauben, dass das richtig ist, aber am Ende muss man sich darüber klar werden, dass der Weg, dem man folgt, so ausgelatscht er scheinen mag, doch der eigene Weg ist. Das nennt sich Verantwortung, glaube ich. Verantwortung für das eigene Leben.

Cioma also. Irgendwie vom Berlin der begonnenen 1940er Jahre in die Schweiz unter brisanter Lebensgefahr – hoffentlich war das Wetter gut, als er mit dem Fahrrad durchs Deutsche Reich floh (welch kleiner Gedanke!) – ich muss den Irgend in mir finden. Und der denkt achtzig Jahre zu spät in touristischen Dimensionen.

Wenn ich eine Radtour von Berlin in die Schweiz planen würde, eine Radtour, keine Flucht, bei der es um Leben und Tod geht, nur eine Radtour, welche Strecke würde ich wohl nehmen? Ich kann es Euch verraten. Der Fresszettel neben diesem Computer verrät es. Neben Alltagsnotizen stehen auf dem Din A4 großen Blatt jede Menge Ortsnamen – 1 Jüterbog, 2 Bad Düben, 3 Halle, 4 Naumburg –  und wenn man das Blatt umdreht setzt sich die Ortsnamenliste munter fort – 6 Rudolstadt, 7 Saalfeld usw. bis 14 Kempten, 15 Lindau, 16 Bregenz, 17 Dornbirn, 18 Feldkirch.

Es ist lange her, dass ich des Passfälschers Buch las, in dem er zunächst vom Leben im Arbeitsdienst (Zwangsarbeit. Ein Sechzehnjähriger.) in Bielefeld Mitte der 1930er Jahre berichtet, später vom Widerstand in Berlin und wie sich die Schlinge etwa 1941, 1942 zuzieht um die Widerstandsgruppe der Passfälscherwerkstatt und wie er schließlich als Soldat auf Heimaturlaub, getarnt mit einem selbstgefälschten Pass durch Deutschland radelt. Ein paar Namen von Orten, die er durchquerte sind mir in Erinnerung geblieben. Bayreuth oder Bamberg und Ulm, sowie der erste Versuch, in Feldkirch im heutigen Österreich einen Güterzug zu besteigen, der in die Schweiz fährt. Es muss unendlich aufreibend gewesen sein, so nah an der rettenden Schweiz zu sein und im Hinterkopf die Sorge, ob man es erstens schafft, die Grenze unentdeckt zu überwinden und ob man zweitens auch Asyl erhält. Das war in der dem deutschen Regime nicht unbedingt abgeneigten Schweiz nämlich bei Leibe nicht an der Tagesordnung. Sprichwörtlich hingen an dem illegalen Grenzübertritt Leben und Tod für Cioma. Hätte man ihn erwischt bei dem Versuch, die Grenze zu überschreiten, wäre er sofort erschossen worden. Hätte er es geschafft, aber die Schweizer Behördenmaschine hätte ihn ‚ausgeschafft‘, wäre er nach kurzem Prozess durch die Nazijustiz ermordet worden. 19 Bregenz, 20 Stockach, 21 Radolfszell, 22 Öhningen steht auf meiner Tourliste. MEINER, ha! Und  TOUR! Es tut weh, dies so zu schreiben. Es verharmlost das Damals.

Nachdem ich die Liste geschrieben hatte mit dem virtuellen Finger namens Mauszeiger auf der Landkarte namens Googlemap und mich nach Bregenz denke, kommen mir unweigerlich meine Radtouren in jungen Jahren in den Sinn. Einmal im Jahr radelte ich gemeinsam mit meinem Vater und Freunden von der Nordpfalz, wo wir wohnten zum Bodensee und zurück. Etwa 1000 Kilometer. Etwa fünf sechs Mal machten wir die Tour. Mit Fahrrädern, die über hochmoderne Schaltwerke verfügten, bestes Reifengummi, 18 Gänge, Alurahmen, Cantileverbremsen, Licht. Den Bodenseeradwegs gab es auch schon in den 1980er und 1990er Jahren und er war eine prima autoarme Radlerroute, sehr beliebt. Mein Touristenhirn überwirft also die grob per Mauszeiger zusammengeklickte mögliche Route des Passfälschers 2.0, die nur aus ein paar handvoll Städten bestand und ich fange plötzlich an, in Radwegen zu denken, blende die Open-Cyclemap als Ebene ein und schaue mir das heutige Berlin, das heutige Deutschland als ein von touristischen Fernradrouten durchzogenes Netz an. Wenn ich diese ciomaeske Reise zwar nur virtuell mache, werde ich sie dennoch so planen, dass ich sie auch eines Tages in echt machen kann. So habe ich es auch schon mit den beiden Vorgängerprojekten Zweibrücken-Andorra 3 und Radlantix gemacht. Auch bei diesen ‚Touren‘ achtete ich akribisch darauf, dass die Strecke, die ich in den Googlemaps ausbaldowerte auch irgendwann einmal nachradeln kann.

Berlin Leipzig. Der Fernradweg beginnt glaube ich am Gleisdreieck. Das wäre mein erster Fernradwegkandidat, wenn ich in echt. Dann die Saale aufwärts, durchs Dickicht Thüringens und Bayerns rüber zum Main etwas mit Ba wie etwa Bamberg oder Bayrueth, so ganz klar ist es mir nicht mit den Orten, die mit Ba beginnen. Quer durch Franken, runter nach Schwaben, in Ulm, um Ulm und um Ulm herum ins Allgäu und Bodensee und Feldkirch und schauen, was sich dort an Bahnanlagen befindet, sich vielleicht mal einen Tag in den Wald legen und den Güterverkehr beobachten, um Cioma im Geiste näher zu kommen, wie er es einst tat und wie er hoffte …

Prozessual, dieses Buch. Ich glaube, das trifft es. Roh, ablaufend, nur durch Nichtstun noch aufzuhalten oder zu scheitern. Ich glaube, das ist es. Die Anfänglichen Gedanken, dass ich ‚Ich‘ bremsen muss, am Besten ganz vermeiden, habe ich über Bord geworfen. Es ist schier absurd, als Blogger im eigenen Blog nicht in Erscheinung zu treten. Da kann man sich wehren so sehr man will. Man ist das Fundament des Projekts, ob man will oder nicht.

Dieser Blogeintrag gaukelt schon seit bald einer Woche als Entwurf. Wieder und wieder machte ich einen Ansatz, etwas zum Projekt Passfälscher zu schreiben. Ich hatte den folgenden Tweet einkopiert, weil ich das finale Statement, ‚wir schaffen auch durch Geschehenlassen‘ denkenswert fand.

Zum Erben gehört es nun einmal, dass man nicht nur Geld und Grund erbt, sondern auch die Schuld

Mit Stadtrat N. telefoniert. Es ging eigentlich um ganz banale Gegenwartsdinge, Fragen hie und da, ein Zweckanruf. Da wir aber schon einmal im Gespräch waren, fragte ich ihn nach den Stolpersteinen, die in der Stadt verlegt wurden. Noch vor wenigen Jahren gab es nur einen einzigen Stolperstein etwas jenseits der Innenstadt. Der Stolperstein für Walter Frick wurde auf Initiative seiner Enkelin Julia Gilfert am 24. Februar 2012 in der Alten Steinhauser Straße 30 verlegt. Ein dreiviertel Jahrzehnt war es der einzige Stolperstein in Zweibrücken.

Bei meinen Nachforschungen im Rahmen dieses Blogprojekts, Passfälscher 2.0, sind Stolpersteine eine meiner ersten Anlaufstellen, eine Art Brotkrümelspur, die mich kreuz und quer durch Europa führt. Die Stolpersteine von Cioma Schönhaus‘ Eltern in Berlin sind der Start dieser nichtphysischen Reise, von der ich nicht weiß, wohin sie mich führen wird.

Julia Gilfert hat akribisch die Umstände, die zur Ermordung ihres Großvaters Walter Frick führten, recherchiert und erzählt auf dieser Webseite die erschütternde Geschichte seiner Ermordung. Hinter jedem Stolperstein steht solch eine individuelle Geschichte. Oft vergessen, nur noch reduziert auf einen Namen, einen Tod oder eine Flucht.

Insgesamt vierzehn Stolpersteine gibt es mittlerweile in Zweibrücken, finde ich bei meiner Websuche heraus. Auf der Wikipediaseite, die die Zweibrücker Stolpersteine listet, ist bisher nur der Stein von Walter Frick eingetragen. Ich werde das bei Gelegenheit ändern (muss mich erst noch einarbeiten, wie ich als Neuling bei Wikipedia Wissen einpflegen kann).

Wo sind denn die Steine verlegt, fragte ich also den Stadtrat N. Zwar konnte er mir nicht die Hausnummern nennen, aber immerhin, in der Karlstraße ist einer, sagte er – wo dort, fragte ich, nahe der Kirche vielleicht – eher am anderen Ende, aber auf der Straßenseite der Kirche. Dann gibt es noch welche in der Parallelstraße, wie hieß die noch … – achja, dort wo das  Beerdingungsinstitut …, sage ich – ja, auf der Straßenseite vom Beerdigungsinstitut. Und der dritte Standort ist in der Mühlenstraße. Den Stein vom Walter Frick kennst du ja.

Stadtrat N. gab mir noch zahlreiche Hintergrundinformationen wie es zu den Verlegungen kam. Die Steine in der Wallstraße 44 – mittlerweile war ich vor Ort und habe sie mir angeschaut, zehn Stück – erinnern an die Familien Weis und Löb, die vor dem Naziregime flohen, in die USA emigrieren konnten (nicht alle überlebten). Ihre Nachfahren hatten die Verlegung der zehn Stolpersteine im Jahr 2019 veranlasst.

Gartenmöbel. Es klingt fast schon grotesk, aber unser Anliegen im Telefonat, das ich aus Recherchebedarf in Richtung Stolpersteine umleitete, hatte eigentlich den banalen Anlass, einen Winterplatz für die Gartenmöbel des Stadtrats zu finden, ach wir herrlichen Menschen im Hier und Jetzt in unserer feinen Glücklichzeit im schönen wohlgeregelten Gemeinsam, in dem es mit relativ rechten Dingen zugeht und niemand fürchten muss, von heute auf morgen in einer Gefängniszelle zu landen oder in einer mordenden Psychiartrie. Was haben wir es doch so gut, denke ich voller Dankbarkeit. Umso wichtiger ist es, dass ich meine Reise Passfälscher 2.0 fortsetze. Man neigt in seiner feinen, wohlgeregelten und sicheren Welt in einem der reichsten Länder dieser Erde so gerne dazu, sich einzulullen und zu vergessen, was die eigenen Vorfahren den Vorfahren anderer Menschen angetan haben. Man neigt so gerne dazu, sich freizusprechen von jeglicher Schuld, denn man kam ja unschuldig zur Welt und hatte mit all den Verbrechen nichts zu tun. Stimmt? Stimmt ganz und gar nicht! Wir sind Erben. Und zum Erben gehört es nun einmal, dass man nicht nur Geld und Grund erbt, sondern auch die Schuld, die die Erblasser auf sich geladen haben, um diesen Besitz zu erwerben.

Oft erhielten die Inhaftierten in ihrer Zelle Besuch von Notaren, die sie dazu drängten, ihren Besitz zu einem Spottpreis zu verkaufen, sagte N.

Nun haben die Zweibrücker Brüder Gerhard und Rainer Schanne die Patenschaft für einen Stolperstein über­nommen, der an den Plüschfabrikanten OTTO ESCALES (1853-1939) erinnern wird. Als Jude wurde der ehemals angesehene Zweibrücker Bürger in der NS-Zeit entrechtet, ge­de­mütigt und praktisch enteignet.

Wenn ich mich vertiefe in die Düsternis der Nazizeit, wird mir fast schlecht, brauche ich unendlich viel Kraft, auch nur ein paar Zeilen zu lesen über das Schreckliche das geschah.

Die Gartenmöbel kommen am nächsten Donnerstag.

Stolpersteinverlegung 7. Juli 2020, von Fritz Schäfer, Saarbrücker Zeitung (Bericht vorab mit Foto einer Verlegung von zehn Steinen im Jahr 2019 in der Wallstraße).

Und: Saarbrücker Zeitung von Nadine Lang (drei Steine in der Karlsstraße und Mühlenstraße).

Recherche und Ergänzungen: finde den Zeitungsbericht zur Verlegung der zehn Stolpersteine in der Wallstraße 44 im Jahr 2019; weiter in die Tiefe gehen (Namen).

In Radeln zwei Hoffen

In die Nacht hinein radeln kommt hin und wieder vor. Kürzlich auf dem Rückweg aus Saarbrücken erreichte mich die Dämmerung in Sarreguemines und ein paar Kilometer weiter bei der Grenze in Reinheim war es zappenduster. Zum Glück war das Fahrrad mit einem guten Licht ausgestattet. Auf dem Bliesradweg tummelten sich Angler – hier sind die Angler, riefen sie aus dem dunklen Off – und  Hundegassileute – stillschweigend, aber die Hundchen verbellten mich – und auch ein paar unbeleuchtete Radlerinnen und Radler zischten an mir vorbei. Sowie ein umgeworfener Baustellenzaun, dessen Gitter wie ein Spieß aus dem Boden ragte.

Aus der Nacht heraus radelt man eigentlich nur, wenn man unterwegs ist. Irgendwo in Europa. Motor seiner selbst, plötzlich aus dem Schlaf gerissen, vielleicht vom Geräusch eines Tieres, dem Sausen einer nahen Landstraße, das Zelt steht ja irgendwo in einer Brache mehr oder weniger illegal und dann rattert sogleich das Gehirn und im Schwung des unterbrochenen Traums mengt sich Surreales mit den Erlebnissen des Vortages. Im Idealfall kriecht man aus dem Schlafsack setzt sich auf, startet das Smartphone, initiiert das sprichwörtliche Schneidersitzbüro, kauernd, umgeben von ein bisschen Technik, auf der Isomatte. Man tippt die Gedanken ins Blog. Dazu ein Bild und ein grober Korrekturdurchlauf und ab ins Netz. Kaffeetrinken, ein bisschen was essen, das Lager zusammenpacken und auf in den Sattel, auf auf in einen neuen Tag.

Schreibend reisen ist einfach wunderbar. Oder reisend schreiben. Meine Lieblingsbeschäftigung.

Cioma Schönhaus hätte auf seiner Flucht vor der Gestapo alles andere getan als aufzuschreiben, was er tagsüber erlebte, welche Strecke er mit seinem – vermutlich – Eingangfahrrad und den – vermutlich – ziemlich zerfledderten, nicht protektierten Fahrradreifen nahm. Kaum Licht. Wie er sich fühlte? Wem er begegnete? Man hätte die Aufzeichnungen bei einer Festnahme gefunden und gegen ihn verwendet und gegen diejenigen, die er darin erwähnte, die ihm halfen. Ganz und gar nicht wäre Cioma zum Blogger geworden. Es ging in jeder Minute der ‚Reise‘ von Berlin bis in die Schweiz um Leben und Tod.

Wieder einmal: Cioma und mich unterscheidet so vieles mehr als uns gemeinsam ist. Doch es ist nicht mein Ansinnen, zu vergleichen … sage ich. Ertappe mich dennoch immer wieder dabei, dass ich vergleichen möchte. Diese Situation mit jener, jene Zeit mit dieser, eine Phase des Lebens mit einer anderen, die eine menschliche Historie mit der anderen … Fallstricke.

Wenn ich in ‚echt‘ unterwegs wäre von Berlin in die Schweiz, wäre alles ganz anders. Die Tageserlebnisse würden mich auffangen. Radfahren ist für mich der Motor meines Geistes, meiner Gedanken. Im mantrischen Rund der Pedale produziert der Körper neben Schweiß und Atem auch jede Menge gut notierbarer Wortketten. Und selbst wenn ich abends erschöpft im Zeltlager liege und den Tag revue passieren lasse und bemerke, dass ich mir nicht all die wunderbar gedachten Gedanken aufs Wort merken konnte, bleibt dennoch immer eine Unzahl an Verwertbarem übrig, das Einzug ins Blog hält. Es gibt für mich kaum etwas Erholsameres und Produktiveres als Radfahren und nebenbei an einem Text zu denken. Wie von selbst schreibt sichs.

Diesen Sonntagmorgen erwachte ich um 6:17. Ein warmer Tag. Das Thermometer auf dem Treppenabsatz vor der Künstlerbude zeigt elf Grad. Klarer Himmel. Venus, Mond und Merkur reiten aus der Morgendämmerung in einen goldenen Tag. Blutrote Morgensonne. Fallzahl 16947. Für einen Moment hatte ich tatsächlich geliebäugelt, ein bisschen in den Tag zu radeln, nur um der Erinnerung willen wie das ist, wenn man früh schon den Motor startet. Es ist etwas schwierig, sich zu motivieren, wenn es keine Notwendigkeit gibt; wenn alles immer passieren kann und man jederzeit Allmögliches tun kann. Die freie Gestaltung von Zeit. Auch dies ein Unterschied zwischen Cioma und mir, vermute ich, denn wer von Häschern verfolgt wird, kann oft nur noch reagieren. Da gibt es keine losen Momente mehr im Leben, in denen man die Zeit dahin plätschern lassen kann. Zum Beispiel den lieben langen Tag nichts tun außer Essen zubereiten und Normalsein. Da ist dann nur noch Angst. Alarmbereitschaft und der Impuls, schnell weg hier. Hoffen. Auch das. Gibt es Unterschiede zwischen den Hoffens? Wie unterscheidet sich das Hoffen eines vom Tod bedrohten Menschen auf der Flucht vom Hoffen eines – sagen wir mal ganz banal – Lotto spielenden?

Neben mir auf dem Schreibtisch ein Zettel mit Themen, die ich in diesem Blog bearbeiten möchte. ‚Herschberg Stolpersteinsuche‘ steht darauf, ‚Radfahren, der Motor des Geistes‘ und ‚Nichtstun außer Essen zubereiten und Normalsein‘.

Ich werde darauf zurückkommen.

 

Den Merkur erlernen

Der Mensch in seiner Zeit. Der Mensch in seinem Lebensalter. Zeiten im Vergleich. Zeiten kann man nicht vergleichen. Am Ehesten dürfte es noch möglich sein, sich selbst mit sich selbst zu vergleichen. Den, der man ist, bzw. von dem man ein Bild hat wie er ist, vergleichen mit dem, der man einmal war, bzw. das Jetzt-Ich vergleichen mit der Erinnerung an seine eigenen vergangenen Ichs.

Es ist vertrackt. Die Nacht war kurz. Ich erwachte in die Morgendämmerung hinein. Im Web empfahl man den Blick nach Osten, wo ein scharfer Sichelmond zu sehen wäre unter einem hellen Punkt, der Venus. Etwa eine Hand breit überm Horizont würde gegen sechs Uhr auch noch der Merkur erscheinen. Ich lugte durchs Fenster neben dem Arbeitsplatz. Tatsächlich. Zwischen kahl gewordenen Hainbuchen lag die Sichel und schräg darüber strahlte die Venus. Vom Merkur keine Spur. Wegen der Dunkelheit war nicht auszumachen, ob am unteren Rand des Himmels Wolken liegen oder ob es keinen Merkur gibt und sich das Internet geirrt hat. Natürlich, die Vernunft sagt, glaube dem Internet. Wenn das Internet sagt, unterm Mond ist Merkur und du aber keinen Merkur erkennen kannst, dann ist der einzig logische Schluss, dass dort wo der Merkur erscheinen sollte, Wolken vorm Weltall hängen. Dunkle Dünste, die man in der Frühe des Tages ohne Sonnenlicht nicht wahrnimmt.

Erste Fotos auf Twitter untermauern die Vermutung, dass bei mir Wolken vorm Merkur hängen. Ein fahler Merkurpunkt ist auf ihnen erkennbar. Die Wahrheit des prognostizierten Bilds verdichtet sich: Am Freitag, dem 13. November 2020 wird ein wie stechbeitelgeschnitzter Sichelmond auf dem Rücken liegen in einer relativ geraden Linie zwischen Venus und Merkur und zwar zwischen Fünf-Uhr-Nochwas und bald sieben Uhr in Deutschland.

Es ist schon verrückt, mit welcher Leichtigkeit ich Mond, Venus und Merkur als gegeben hinnehme, obwohl ich doch gar kein Astronom bin. Es hat insgeheim im Laufe meines Lebens eine Einigung mit anderen Menschen stattgefunden, dass der Mond der Mond ist, die Venus die Venus und der Merkur der Merkur. Wenn ich nichts davon wüsste und den Morgenhimmel beobachten würde, würde ich das Phänomen ohne Kenntnis zwar genau so sehen wie mit der Kenntnis oder der Einigung. Aber es wäre eben nur ein Bild. Es wäre nicht geladen mit einer Art Bedeutung, nicht verknüpft mit dem Gefühl der Eingeschworenheit, das man entwickelt, wenn man sich mit vielen anderen darauf verständigt, dass es so und so ist.

Zwischen der Kraft der drei beschriebenen Gestirne empfinde ich durchaus eine Hierarchie der Bekanntheit. Besonders dominant ist der Mond. Dann folgt die unheimlich helle Venus und, naja, den Merkur, den ich nicht sehen kann, nehme ich als Zusatzinformation hin. Ich muss den Merkur erst noch lernen, um ihn in späteren Situationen als ein ‚klar, den kenne ich‘, hinzunehmen.

Gestern flatterte ein Buchpäckchen ins Haus von meinem Freund Hauptstadt-Mediator. Er arbeitet in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Das Museum informiert am Ort des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 mit einer Dauerausstellung über den gesamten Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Im begleitenden Katalog zur Ausstellung ‚Stille Helden‘ in der 2018er Fassung ist auch ein umfangreiches Kapitel über den Grafiker Cioma Schönhaus enthalten. Der Hauptstadt-Mediator sendete mir die beiden Versionen des Katalogs aus den Jahren 2018 und 2020.

Ebenso erschütternd wie einen Blick in die richtige Richtung lenkend, liegt mir nun ein wenig Literatur zum Thema vor, von dem ich noch nicht weiß, wie ich es in dieses Blog einwirken werde. Meine Reise ist nicht ganz so einfach, wie ich es mir erhofft habe. Es ist ein großer Unterschied, ob man tatsächlich per Fahrrad eine Strecke bereist und über die Erlebnisse berichtet, die sich unweigerlich einstellen, oder ob man zu Hause am PC sitzt und in der ungeheuren und teils abstrakten Vielfalt der Möglichkeiten stochert.

Ja, ich denke, die Annahme ist richtig, dass eine echte Reise eine kanalisierende Wirkung hat durch äußere Einflüsse, die einem im Kopf bleiben und die am Abend Thema des jeweiligen Blogeintrags sind. Im Gegensatz dazu die Reise am PC, die theoretisch überall hinführen kann, in der sich Raum und Zeit nicht abgrenzen lassen, in der man von Thema zu Thema pendelt und die Entfernungen dazwischen sind unvorstellbar groß.

Im Browserverlauf des gestrigen Tages zeigt sich eine Vielzahl von Themen. Teils Geschichtliches, teils Philosophisches, Technisches und vieles, was überhaupt nichts in diesem Blogexperiment zu suchen hat (etwa Techniken zur Überprüfung von Festplatten oder Empfehlungen, wie man ein neues Betriebssystem organisiert usw.). Eine ganze Weile blieb ich bei Artikeln über Hannah Arendt hängen. Auf dem Weg zu diesen Artikeln folgte ich einer klaren Spur. Beim Nachlesen über Stolpersteine schaute ich mich in meiner Gegend und in meiner Heimatstadt um und gelangte über einen Artikel über die systematische Vernichtung der pfälzischen und badischen Juden zu einem Artikel über das Internierungslager Gurs. Das Lager lag am Nordrand der Pyrenäen in der Nähe des Baskenlands. Dorthin verschleppte man die meisten pfälzischen und badischen Juden. In Gurs war auch Hannah Arendt für kurze Zeit interniert. Sie konnte mit Mühe und Not fliehen und überlebte den Holocaust.

Eine ganze Weile dachte ich über Cioma und mich nach und was wir beide gemeinsam haben. Ich kam zu dem Schluss nichts. Dann kam ich zu dem Schluss, doch, klar haben wir etwas gemeinsam. Wir sind und waren Menschen in unserer Zeit. Ich erwähnte dieses ‚Menschsein in seiner Zeit‘ schon im ersten Blogartikel, und ich möchte dem hinzufügen, Menschsein in seinem Lebensalter ist auch bedenkenswert. Der fünfziger-Irgendlink ist ein anderer als der Vierziger-, der Dreißiger-, der Zwanziger- und so weiter. Der Sechziger-Irgendlink wird auch ein anderer werden. Und somit sehe ich mich auch mit der Frage konfrontiert, ob der Fünfziger-Irgendlink überhaupt nachvollziehen kann, wie sich der Zwanziger-Cioma gefühlt haben mag, wenn er, der Fünfziger-Irgendlink sich kaum noch an den Zwanziger-Irgendlink erinnern kann, der er einmal war.

Vielleicht kommen hier die Gestirne ins Spiel. Wie sie im Jahresrund um einander kreisen. Gebunden von Kräften, auf Bahnen gebannt. Berechenbar aber nie gleich und im Abstand von Zeit und in Abhängigkeit vom Ort, von dem aus man sie beobachtet immer wieder anders. Die Funktionsweise des Zusammenspiels von etwas zu erkennen, könnte sehr hilfreich sein.