Ich darf den prozessualen Fortgang dieses Blogs nicht ignorieren. Besser gesagt, ich muss mir dessen erst einmal bewusst werden. Lange Tage habe ich das Schreiben schleifen lassen, dachte nach, fand keine rechte Idee, die der Schwere des Themas gerecht werden könnte, zweifelte ein wenig, ebenso wie ich phantasierte und Auswege suchte aus dem Dilemma.
Nun wird mir klar, wenn ich so weiter mache, wird am Ende zwar alles gedacht sein, aber nichts davon gesagt. Wenn ich mit dem Denken voran, voran und voran schreite, durchlaufe ich nach und nach alle Schleifen und lege die Ergebnisse ab, die mit jeder weiteren Denkschleife wertloser und alt werden. Wie Holz, das man im Frühjahr zerkleinert im Wald liegen lässt. Schutzlos ohne Abdeckung und Trocknungsmaßnahmen geht es den Weg jedes Baumgeschöpfs, das auf natürliche Weise fällt. Die Natur zersetzt es. Es wird in einen Zustand zurückversetzt, in dem das einst so stolze Baumgeschöpf es nie dagewesen sein könnte.
Manchmal frage ich mich, ob eine Zeit kommen wird, in der wir Menschen nie gedacht, gehandelt, erlebt, reagiert, geschaffen und vernichtet haben werden. Eine Zeit ohne jegliche Spur. Millionen Jahre entfernt von heute.
Alles wird vergeblich gewesen sein, dem wir heute Bedeutung beimessen und dennoch wird das, was dann ist nicht existieren können, ohne dass diese unsere Stufe des Prozesses durchlaufen wurde.
Unsere trostlose kleine Zeit, in der wir einander und dem Planeten so viel Leid zufügten wird einige zehntausend Jahre gedauert haben und von dem Geist, den wir hätten entwickeln können und der uns auf eine vielleicht höhere Stufe hätte bringen können, der eine fürdere Existenz ermöglicht haben könnte, bleibt nichts übrig.
Als Mensch meiner Zeit predige ich so gerne das Glück im Jetzt: den in vollen Zügen genossenen Augenblick, der doch nur eine Illusion ist. Natürlich ist es möglich, Glück zu empfinden. Es ist auch erlaubt. Nimmt man die Glücksmomente aller Menschen jetzt in dieser Sekunde, in der dies gelesen wird zusammen und zieht auch noch das Glück aller anderen irgendwie zu Empfindungen fähigen Lebewesen auf diesem Planeten mitein … ich weiß nicht, was unter dem Strich als Bilanz steht. Persönlich vermute ich ein Desaster. Eine Bankrotterklärung ans Universum.
Dieses Blogprojekt ist vermutlich ein Prozess, wurde mir vorhin bewusst. Ich stieg die kleine hölzerne Treppe hinauf in die Küche der Künstlerbude, gab zwei Löffel löslichen Kaffee in eine Tasse, schüttete Heißwasser darauf, das ich zuvor in einem Wasserkocher erhitzt hatte. Dazu ein bisschen Milch und zurück zum Arbeitsplatz, der im einzigen beheizbaren, etwa 12 Quadratmeter großen Raum der Künstlerbude liegt. Die Nacht war frostig. Raureif liegt auf den Feldern, bis fast zum Haus; wenige Meter vor den Mauern hört die Spur des Reifs auf, ist das Gras nicht gefroren, herrschten auch ganz früh heute offenbar noch Temperaturen über null Grad. Gutso. Nicht gutso. Der zweite fast frostfreie November in Folge, wenn ich mich erinnere. Das Klima wandelt sich rasant. Ich lebe in einer kaputten Welt voller Probleme. Die Zahl, die unter dem Strich meiner großen Weltenglücksbilanz steht, dürfte knallrot sein. Eine unendlichstellige negative Zahl.
Warum ich das schreibe? Es muss weitergehen hier in diesem Blog. Hatte ich anfangs noch in klassischen schreiberischen Dimensionen gedacht mit Helden und Antihelden und einem Thema, an dem man sich festbeißt, das man akribisch durcharbeitet, auf ein Ergebnis hinarbeitet, bin ich nun etwas fataler geworden und denke, ich sollte mir eine Laissez-Faire-Attitüde zulegen, in der ich dieses Blogbuch einfach geschehen lasse. Dem eigenen Hirn mehr Freiraum geben, nicht darauf hören, was von Außen einprasselt und beeinflusst, beflügelt oder bremst, günstigenfalls einem stillen Fluss an Gedanken dabei zuschauen, wie er sich von den Schluchten des Gebirges durchs Land frisst und am Ende in einem wildbewucherten Delta in ein Meer mündet.
Das Buch übers Buch übers Buch in Blogform, das ist es doch, was du immer wolltest, Herr Irgendlink, oder?
Die Stolpersteine im Hinterstübchen, all die Namen, Cioma und seine Spur durch Deutschland in die Schweiz, von der ich noch immer nicht herausfinden konnte, wie die Fluchtroute verlief. Will ich es überhaupt herausfinden?
Vor bald einem viertel Jahrhundert, ich war jung, predigte ich meinem besten Freund Paul einmal, so und so, das und das könnte dir helfen und ich beschrieb ihm genau meinen Weg, wie er für mich plausibel schien und gehbar und heilsversprechend. Paul schaute mich an und sagte, alles schön und gut, aber ich muss den Paul in mir finden.
Es gibt unendlich viele begangene Wege, die allesamt richtig waren oder falsch, verirrt oder bekannt, echt oder getäuscht und allen gemeinsam ist nur eins, dass es eigene Wege waren. Selbst die Wege, derer es bestimmt eine sehr große Menge sind, die den Wegen anderer vermeintlich folgen, sind eigene Wege. Man kann wunderbar dem Weg anderer folgen als Mensch und glauben, dass das richtig ist, aber am Ende muss man sich darüber klar werden, dass der Weg, dem man folgt, so ausgelatscht er scheinen mag, doch der eigene Weg ist. Das nennt sich Verantwortung, glaube ich. Verantwortung für das eigene Leben.
Cioma also. Irgendwie vom Berlin der begonnenen 1940er Jahre in die Schweiz unter brisanter Lebensgefahr – hoffentlich war das Wetter gut, als er mit dem Fahrrad durchs Deutsche Reich floh (welch kleiner Gedanke!) – ich muss den Irgend in mir finden. Und der denkt achtzig Jahre zu spät in touristischen Dimensionen.
Wenn ich eine Radtour von Berlin in die Schweiz planen würde, eine Radtour, keine Flucht, bei der es um Leben und Tod geht, nur eine Radtour, welche Strecke würde ich wohl nehmen? Ich kann es Euch verraten. Der Fresszettel neben diesem Computer verrät es. Neben Alltagsnotizen stehen auf dem Din A4 großen Blatt jede Menge Ortsnamen – 1 Jüterbog, 2 Bad Düben, 3 Halle, 4 Naumburg – und wenn man das Blatt umdreht setzt sich die Ortsnamenliste munter fort – 6 Rudolstadt, 7 Saalfeld usw. bis 14 Kempten, 15 Lindau, 16 Bregenz, 17 Dornbirn, 18 Feldkirch.
Es ist lange her, dass ich des Passfälschers Buch las, in dem er zunächst vom Leben im Arbeitsdienst (Zwangsarbeit. Ein Sechzehnjähriger.) in Bielefeld Mitte der 1930er Jahre berichtet, später vom Widerstand in Berlin und wie sich die Schlinge etwa 1941, 1942 zuzieht um die Widerstandsgruppe der Passfälscherwerkstatt und wie er schließlich als Soldat auf Heimaturlaub, getarnt mit einem selbstgefälschten Pass durch Deutschland radelt. Ein paar Namen von Orten, die er durchquerte sind mir in Erinnerung geblieben. Bayreuth oder Bamberg und Ulm, sowie der erste Versuch, in Feldkirch im heutigen Österreich einen Güterzug zu besteigen, der in die Schweiz fährt. Es muss unendlich aufreibend gewesen sein, so nah an der rettenden Schweiz zu sein und im Hinterkopf die Sorge, ob man es erstens schafft, die Grenze unentdeckt zu überwinden und ob man zweitens auch Asyl erhält. Das war in der dem deutschen Regime nicht unbedingt abgeneigten Schweiz nämlich bei Leibe nicht an der Tagesordnung. Sprichwörtlich hingen an dem illegalen Grenzübertritt Leben und Tod für Cioma. Hätte man ihn erwischt bei dem Versuch, die Grenze zu überschreiten, wäre er sofort erschossen worden. Hätte er es geschafft, aber die Schweizer Behördenmaschine hätte ihn ‚ausgeschafft‘, wäre er nach kurzem Prozess durch die Nazijustiz ermordet worden. 19 Bregenz, 20 Stockach, 21 Radolfszell, 22 Öhningen steht auf meiner Tourliste. MEINER, ha! Und TOUR! Es tut weh, dies so zu schreiben. Es verharmlost das Damals.
Nachdem ich die Liste geschrieben hatte mit dem virtuellen Finger namens Mauszeiger auf der Landkarte namens Googlemap und mich nach Bregenz denke, kommen mir unweigerlich meine Radtouren in jungen Jahren in den Sinn. Einmal im Jahr radelte ich gemeinsam mit meinem Vater und Freunden von der Nordpfalz, wo wir wohnten zum Bodensee und zurück. Etwa 1000 Kilometer. Etwa fünf sechs Mal machten wir die Tour. Mit Fahrrädern, die über hochmoderne Schaltwerke verfügten, bestes Reifengummi, 18 Gänge, Alurahmen, Cantileverbremsen, Licht. Den Bodenseeradwegs gab es auch schon in den 1980er und 1990er Jahren und er war eine prima autoarme Radlerroute, sehr beliebt. Mein Touristenhirn überwirft also die grob per Mauszeiger zusammengeklickte mögliche Route des Passfälschers 2.0, die nur aus ein paar handvoll Städten bestand und ich fange plötzlich an, in Radwegen zu denken, blende die Open-Cyclemap als Ebene ein und schaue mir das heutige Berlin, das heutige Deutschland als ein von touristischen Fernradrouten durchzogenes Netz an. Wenn ich diese ciomaeske Reise zwar nur virtuell mache, werde ich sie dennoch so planen, dass ich sie auch eines Tages in echt machen kann. So habe ich es auch schon mit den beiden Vorgängerprojekten Zweibrücken-Andorra 3 und Radlantix gemacht. Auch bei diesen ‚Touren‘ achtete ich akribisch darauf, dass die Strecke, die ich in den Googlemaps ausbaldowerte auch irgendwann einmal nachradeln kann.
Berlin Leipzig. Der Fernradweg beginnt glaube ich am Gleisdreieck. Das wäre mein erster Fernradwegkandidat, wenn ich in echt. Dann die Saale aufwärts, durchs Dickicht Thüringens und Bayerns rüber zum Main etwas mit Ba wie etwa Bamberg oder Bayrueth, so ganz klar ist es mir nicht mit den Orten, die mit Ba beginnen. Quer durch Franken, runter nach Schwaben, in Ulm, um Ulm und um Ulm herum ins Allgäu und Bodensee und Feldkirch und schauen, was sich dort an Bahnanlagen befindet, sich vielleicht mal einen Tag in den Wald legen und den Güterverkehr beobachten, um Cioma im Geiste näher zu kommen, wie er es einst tat und wie er hoffte …
Prozessual, dieses Buch. Ich glaube, das trifft es. Roh, ablaufend, nur durch Nichtstun noch aufzuhalten oder zu scheitern. Ich glaube, das ist es. Die Anfänglichen Gedanken, dass ich ‚Ich‘ bremsen muss, am Besten ganz vermeiden, habe ich über Bord geworfen. Es ist schier absurd, als Blogger im eigenen Blog nicht in Erscheinung zu treten. Da kann man sich wehren so sehr man will. Man ist das Fundament des Projekts, ob man will oder nicht.
Dieser Blogeintrag gaukelt schon seit bald einer Woche als Entwurf. Wieder und wieder machte ich einen Ansatz, etwas zum Projekt Passfälscher zu schreiben. Ich hatte den folgenden Tweet einkopiert, weil ich das finale Statement, ‚wir schaffen auch durch Geschehenlassen‘ denkenswert fand.
Wir sind alle miteinander in einem fortwährenden Schöpfungsakt.
Wir erschaffen durch das, was wir denken, denken und sagen, oftmals denken und tun.
Bestenfalls erschaffen wir durch das, was wir übereinstimmend denken, sagen und tun.
Wir erschaffen auch durch geschehenlassen.
— Oliver Schnock (@OliverSchnock) November 21, 2020
Ich freue mich darüber, dass du einen Weg gefunden zu haben scheinst, der diesem Blog hier entspricht. Dass du dir dieses Unterwegssein aus deiner heutigen Sicht erlaubst, dass du den Druck von außen abgestreift hast.
Das Prozessuale, die Verunsicherung, das Vielleicht-Mögliche, das Was-Wäre-Gewesen-Wenn, die vorsichtige Annäherung, Impulse aus der Vergangenheit aufnehmend über das Veränderliche und Unveränderliche der eigenen Position heute nachdenken, die Abhängigkeiten und die Freiheiten wahrnehmen — damals/heute;
sich eingestehen, was man nicht weiß, was man vielleicht wissen könnte, was man vielleicht nicht wissen kann, was man vielleicht nicht wissen möchte — ,
fragen, sich neu vergewissern und sich immer wieder verunsichern lassen — und dabei auf sich selbst vertrauen —
das Prozessuale mit anderen teilen —
ein guter Weg, denke ich.
Sehr gern gelesen!