In Radeln zwei Hoffen

In die Nacht hinein radeln kommt hin und wieder vor. Kürzlich auf dem Rückweg aus Saarbrücken erreichte mich die Dämmerung in Sarreguemines und ein paar Kilometer weiter bei der Grenze in Reinheim war es zappenduster. Zum Glück war das Fahrrad mit einem guten Licht ausgestattet. Auf dem Bliesradweg tummelten sich Angler – hier sind die Angler, riefen sie aus dem dunklen Off – und  Hundegassileute – stillschweigend, aber die Hundchen verbellten mich – und auch ein paar unbeleuchtete Radlerinnen und Radler zischten an mir vorbei. Sowie ein umgeworfener Baustellenzaun, dessen Gitter wie ein Spieß aus dem Boden ragte.

Aus der Nacht heraus radelt man eigentlich nur, wenn man unterwegs ist. Irgendwo in Europa. Motor seiner selbst, plötzlich aus dem Schlaf gerissen, vielleicht vom Geräusch eines Tieres, dem Sausen einer nahen Landstraße, das Zelt steht ja irgendwo in einer Brache mehr oder weniger illegal und dann rattert sogleich das Gehirn und im Schwung des unterbrochenen Traums mengt sich Surreales mit den Erlebnissen des Vortages. Im Idealfall kriecht man aus dem Schlafsack setzt sich auf, startet das Smartphone, initiiert das sprichwörtliche Schneidersitzbüro, kauernd, umgeben von ein bisschen Technik, auf der Isomatte. Man tippt die Gedanken ins Blog. Dazu ein Bild und ein grober Korrekturdurchlauf und ab ins Netz. Kaffeetrinken, ein bisschen was essen, das Lager zusammenpacken und auf in den Sattel, auf auf in einen neuen Tag.

Schreibend reisen ist einfach wunderbar. Oder reisend schreiben. Meine Lieblingsbeschäftigung.

Cioma Schönhaus hätte auf seiner Flucht vor der Gestapo alles andere getan als aufzuschreiben, was er tagsüber erlebte, welche Strecke er mit seinem – vermutlich – Eingangfahrrad und den – vermutlich – ziemlich zerfledderten, nicht protektierten Fahrradreifen nahm. Kaum Licht. Wie er sich fühlte? Wem er begegnete? Man hätte die Aufzeichnungen bei einer Festnahme gefunden und gegen ihn verwendet und gegen diejenigen, die er darin erwähnte, die ihm halfen. Ganz und gar nicht wäre Cioma zum Blogger geworden. Es ging in jeder Minute der ‚Reise‘ von Berlin bis in die Schweiz um Leben und Tod.

Wieder einmal: Cioma und mich unterscheidet so vieles mehr als uns gemeinsam ist. Doch es ist nicht mein Ansinnen, zu vergleichen … sage ich. Ertappe mich dennoch immer wieder dabei, dass ich vergleichen möchte. Diese Situation mit jener, jene Zeit mit dieser, eine Phase des Lebens mit einer anderen, die eine menschliche Historie mit der anderen … Fallstricke.

Wenn ich in ‚echt‘ unterwegs wäre von Berlin in die Schweiz, wäre alles ganz anders. Die Tageserlebnisse würden mich auffangen. Radfahren ist für mich der Motor meines Geistes, meiner Gedanken. Im mantrischen Rund der Pedale produziert der Körper neben Schweiß und Atem auch jede Menge gut notierbarer Wortketten. Und selbst wenn ich abends erschöpft im Zeltlager liege und den Tag revue passieren lasse und bemerke, dass ich mir nicht all die wunderbar gedachten Gedanken aufs Wort merken konnte, bleibt dennoch immer eine Unzahl an Verwertbarem übrig, das Einzug ins Blog hält. Es gibt für mich kaum etwas Erholsameres und Produktiveres als Radfahren und nebenbei an einem Text zu denken. Wie von selbst schreibt sichs.

Diesen Sonntagmorgen erwachte ich um 6:17. Ein warmer Tag. Das Thermometer auf dem Treppenabsatz vor der Künstlerbude zeigt elf Grad. Klarer Himmel. Venus, Mond und Merkur reiten aus der Morgendämmerung in einen goldenen Tag. Blutrote Morgensonne. Fallzahl 16947. Für einen Moment hatte ich tatsächlich geliebäugelt, ein bisschen in den Tag zu radeln, nur um der Erinnerung willen wie das ist, wenn man früh schon den Motor startet. Es ist etwas schwierig, sich zu motivieren, wenn es keine Notwendigkeit gibt; wenn alles immer passieren kann und man jederzeit Allmögliches tun kann. Die freie Gestaltung von Zeit. Auch dies ein Unterschied zwischen Cioma und mir, vermute ich, denn wer von Häschern verfolgt wird, kann oft nur noch reagieren. Da gibt es keine losen Momente mehr im Leben, in denen man die Zeit dahin plätschern lassen kann. Zum Beispiel den lieben langen Tag nichts tun außer Essen zubereiten und Normalsein. Da ist dann nur noch Angst. Alarmbereitschaft und der Impuls, schnell weg hier. Hoffen. Auch das. Gibt es Unterschiede zwischen den Hoffens? Wie unterscheidet sich das Hoffen eines vom Tod bedrohten Menschen auf der Flucht vom Hoffen eines – sagen wir mal ganz banal – Lotto spielenden?

Neben mir auf dem Schreibtisch ein Zettel mit Themen, die ich in diesem Blog bearbeiten möchte. ‚Herschberg Stolpersteinsuche‘ steht darauf, ‚Radfahren, der Motor des Geistes‘ und ‚Nichtstun außer Essen zubereiten und Normalsein‘.

Ich werde darauf zurückkommen.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert