Seit Beginn der Arbeiten an diesem Blog am 9. November 2020 begleiten mich die Stolpersteine. Zum einen sicherlich, weil jährlich um den 9. November, dem Höhepunkt der Novemberpogrome 1938, der Nazigräuel und der Judenverfolgung gedacht wird. Zum anderen schärfte sich nach und nach mein Blick. Es verhält sich mit Themen eigentlich nicht anders, als mit der Fotografie. Wir durchlaufen eine Blickschule in der Fotografie ebenso wie eine Aufmerksamkeitsschule für Themen. Hast du als Fotograf erst einmal ein Sujet realisiert, siehst du es schließlich an jeder Ecke. Hast du dich als interessierter Mensch erst einmal auf ein Thema eingelassen, wird es sich aus der Vielzahl an Themen hervorheben und du nimmst irgendwann jeden auch noch so winzigen Aspekt dieses Themas intensiv auf. Hättest du dich nicht sensibilisiert, wäre er (der winzige Aspekt) in der breiten Masse aus Informationen, die täglich auf dich eindreschen, verborgen geblieben.
Eine Art Ent-Verallgemeinerung, wenn ich es mal so sagen darf, denn im Prinzip begleitet uns Menschen ja eine solche Unzahl von Themen, Dingen, Wahrnehmungen, dass wir unsere geringe Kapazität, des Sehens, Hörens, Riechens, Bewusstwerdens stets bündeln müssen und das meiste, das uns umgibt ausblenden müssen.
Das Prinzip des geschärften Blicks funktioniert also nicht nur mit der Fotografie (welchem Sujet wende ich mich zu, Bäume, Architektur, Akt, Hund, Katze, Maus), sondern auch bestens mit Geschichte.
Stolpersteine. So wichtig. So umstritten, so kontrovers diskutiert.
Nachdem ich im November und Dezember einige Kurztrips, meist per Fahrrad zu den Stolpersteinen der näheren Umgebung gemacht hatte, war klar, dass das Projekt in seiner nächsten Phase, der aktiven Reisephase von Berlin in die Schweiz ebenfalls Stolpersteine thematisieren sollte. Wo überall auf Cioma Schönhaus Fluchtroute sind heutzutage Stolpersteine zu finden? In welchen Dörfern und Städten erinnern diese kleinen Bodendenkmäler an die Schicksale Verfolgter, die nicht das Glück hatten, sich zu retten?
Eine Landkarte musste her. Also nahm ich das Tool, das sich schon bei zwei vorhergehenden Blogprojekten bewährt hatte zur Hand, Umap, und begann eine Karte zu skizzieren. Im Prinzip funktioniert Umap, meine ‚Kartenmalmaschine‘ ähnlich wie der Routenplaner in Google Maps, bzw. die Dienste von Google Drive. Nur, dass man als Basiskarten auch topografische Karten einblenden kann, je nach Herzenslust, oder sich das Fernradwegenetz anzeigen lassen kann, was sich als besonders nützlich erweisen sollte.
Zunächst setzte ich in einer Kartenebene alle Orte, die in Cioma Schönhaus‘ Buch ‚Der Passfälscher‘ zu finden waren, die er bei seiner Flucht passierte. Nicht sehr viele. Im Passfälscher gibt es nur ein kurzes Kapitel, das von der Fluchtroute erzählt. Die Punkte dienten mir für die Planung meiner eigenen Route. Schon von Anfang an war mir klar, dass ich die Originalroute nie und nimmer rekonstruieren könnte – nicht einmal Cioma Schönhaus hätte das gekonnt, denke ich. Und es war auch klar, dass ich den Projekt-Masterplan als fahrradtaugliche Strecke planen müsste. Wohl wissend, dass ich deshalb von Ciomas Route sicher weit abweichen würde. Es spielt keine Rolle. Was zählt, ist der Versuch, unterwegs dem Fliehenden nahe zu kommen.
Ich male eine blaue Linie vor ein paar Tagen, die von Berlin über Bad Düben, Halle, Bamberg, Stuttgart und Lindau nach Feldkirch führt. Ich ziehe die Linie entlang der Radwegekarte. Mein Touristenherz jubelt beim Anblick solch bizarrer, nie gehörter Radwegenamen wie etwa ‚Fuhne‘ und ‚Loquitz‘. Mein DIY-Historikerhirn mahnt immer wieder, nimm es nicht zu leicht, Junge, denk an Cioma, das ist kein Spaß. Es ging um Leben und Tod und der Antagonist meines Historikerhirns beschwichtigt, ach was, du Mensch in Deiner Zeit mit Blick auf anderen Menschen in deren Zeit, du bis der Klotz am Bein der Realität, machs Dir kommod, schließlich musst du dich auch selbst bei Laune halten und so sehe ich mich vor dem Monitor auf der Landkarte Linien malen und Punkte setzen und Orte beäugen, stets hin und hergerissen … ein Teil von mir will direkt losradeln in der Sophienstraße in Berlin, raus aus der Stadt, träumt sich voran auf dem Radweg Berlin-Leipzig, vorbei an Bitterfeld, rein nach Halle, raus aus Halle, ewig lang dem Saaleradweg folgend. Ein anderer Teil ergötzt sich an bizarren Ortsmarken und seltsamen Namen, stellt sich Flüsse vor, deren Tal er folgen würde und nie nie nie geht es bergauf in dieser kleinen Mit-dem-Finger-an-der-Maus Radler Phantasie.
Ein dritter Teil baut längst an einer weiteren Kartenebene, in der sämtliche Orte am Rande der Strecke markiert sind, in denen Stolpersteine verlegt wurden. Eine ganz schön komplexe Aufgabe. Zwar stößt man bei der Webrecherche auf eine Open Street Map Karte, in der Stolpersteine verzeichnet sind, doch die Karte ist kaum gepflegt, lädt langsam, scheint sich ohnehin nur auf den Hamburger Raum zu konzentrieren.
Somit ist der Kartenskulpteur, moi même, auf viel händische Arbeit angewiesen. Zunächst erstelle ich eine Liste aller Ortsnamen, die ich am Rande meiner Route finde (siehe voriger Blogeintrag), um sodann die Ortsnamen im Browser auf der offiziellen Stolpersteinseite einzugeben und per Suchfunktion in Gunter Demnigs Chronik die Verlegungen herauszufinden. Leider ist die Seite so konstruiert, dass man sie nicht ohne weiteres durchsuchen kann und ich muss auf den Quelltext zurückgreifen. Immerhin, es funktioniert. Langsam wächst in den vergangenen Tagen die Spur goldgelber Marker, die ich in meiner Projektkarte auf einer eigenen Ebene liste. Ich füge den Ortsmarken mit den Stolpersteinen weitere Informationen hinzu – bin ich eigentlich digitaler Skulpteur oder eher Plastiker? Skulpteure nehmen weg. Plastiker pappen drauf. Ich mache eigentlich beides. Das Gebilde, die Landkarte kommt mir tatsächlich ein bisschen vor wie ein bildhauerisches Werk, auch wenn es am Monitor recht flach ist und ohnehin bei näherer Überlegung nur aus Einsen und Nullen besteht.
Natürlich sichte ich Links und Referenzen. Fast für alle Orte, an denen Stolpersteine verlegt wurden, existiert auf Wikipedia eine Liste mit den Steinen. Sehr hilfreich, auch wenn diese Listen (siehe Zweibrücken, meine Heimatstadt) nicht immer aktuell sind. Auch meine Karte wird irgendwann nicht mehr aktuell sein, wird mir klar. Irgendwann beendet jeder Bildhauer die Arbeit an seinem Werk. Dann steht es. Und erinnert. Bewegt. Stört. Regt an. Wohl auch dieses Blog. Man muss sich dem Voranschreiten der Zeit hingeben als Mensch, so schwer es fällt. Und dem Fakt, dass man nicht auf alle Ewigkeit an einer Sache werkeln kann, sie freilassen, die Sache.
Einige der Städte und Gemeinden haben eigene Stolpersteinseiten eingerichtet, allen voran Berlin, aber auch Wittenberg; die Gemeinde Öhringen hat für alle jüdischen Opfer einen Stolperstein verlegt und pflegt eine eigene Seite darüber. In Leuna erinnert man an fünfzehn Kinder von Zwangsarbeiterinnen, die kurz nach der Geburt ermordet wurden oder man ließ sie verhungern. Keines erlebte seinen zweiten Geburtstag.
Andernorts springen private Initiativen in die Presche, wenn von Gemeindeseite nichts kommt. In Villingen-Schwenningen etwa wurden lange Jahre und über mehrere Gemeinderatsabstimmungen offizielle Stolpersteinverlegungen abgelehnt (es gibt auch Gründe, die gegen Stolpersteine sprechen (hierzu ist ein Blogartikel im vergangen Dezember in Arbeit, der noch nicht veröffentlicht wurde). Eine private Initiative pflegt stattdessen das Gedenken. Erst 2020 stimmte der Gemeinderat der Stadt mehrheitlich für Stolpersteinverlegungen.
Mir wird bewusst, dass mir der Bau der Karte, so anstrengend und aufwändig es auch war, einige wichtige Informationen brachte, einige Denkanstöße fürs Vorankommen dieses Blogs. Und auch wenn die Karte immer noch recht skizzenhaft ist, bietet sie mir nun einen guten Ausgangspunkt für meine weitere Arbeit, sei es rein virtuell recherchierend, aber auch als perfekte Wegskizze für eine echte Reise, die ich natürlich per Fahrrad antreten werde.
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